Quellenkorpus
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Christoph Pitzler
Die Aufzeichnungen Christoph Pitzlers — Mitte der 1680er Jahre während eines mehrjährigen Aufenthalts in Paris entstanden — gehören zu den frühesten substantiellen Bestandsaufnahmen der französischen Architektur unter der Herrschaft Ludwigs XIV., die aus der Feder eines zeitgenössischen deutschen Architekten bisher bekannt geworden sind. Pitzler brilliert zwar weder durch Urteilskraft noch durch zeichnerisches Können. Dennoch bilden seine ca. 140 Seiten umfassenden Reisenotizen zu Frankreich, die durch eine enge Verschränkung von Skizzen und erklärenden Texten gekennzeichnet sind, einen Fundus, der Auskunft über zahlreiche sonst von keinem anderen Reisenden festgehaltene Bauten und Innenausstattungen liefert: Etwa beachtet und zeichnet Pitzler als erster einige der Marmorböden im Grand appartement des Königs im Schloss von Versailles; singulär sind auch seine kursorischen Wiedergaben der Fassade und des Grundrisses jenes Hôtel particulier in der Pariser Rue de l’Université, in dem der Erbprinz Johann Georg von Sachsen (der spätere Kurfürst Johann Georg IV.) während seines Aufenthaltes in der französischen Metropole logierte. Aber auch Pitzlers bebilderte Darlegung der Funktionsweise der Maschine von Marly — jener allgemein bewunderten Pumpanlage an der Seine — ist aufgrund ihrer Ausführlichkeit einzigartig unter den erhaltenen Zeugnissen deutscher Reisender der Zeit. Trotz aller Zufälligkeiten, die die Auswahl bedingt haben mögen, zeigen damit Pitzlers Aufzeichnungen, was ein Architekt aus der deutschen Provinz in den 1680er Jahren in Paris und Umgebung für beachtenswert hielt. Wie er die Anregungen aus Frankreich in seinem, wenn auch überschaubaren baulichen Œuvre verarbeitete, ist allerdings noch zu wenig untersucht.
Zur Person
Die genauen Geburts- und Sterbedaten von Christoph Pitzler sind nicht bekannt: Wahrscheinlich wurde er im November 1657 in Freyburg an der Unstrut geboren; verstorben ist er Ende April 1707 in Halle an der Saale. Dort wurde Pitzler am 28. des Monats in der Laurentiuskirche der Vorstadt Neumarkt beerdigt. Die erhaltene Grabplatte benennt seine Funktion als die eines „[...] Ihr. Königl. Majestät in Preußen, / über die Fürstenthümer, Magdeburg, Halberstadt / und der Stadt Halle wie auch, / Ihr:, Hoch. Fürstl. Durchl. zu Sachsen, / die Fürstenthümer, Weisenfels u. Querfurth, gewesenen / Land Baumeisters, [...]“ (Transkription des Autors, unterstützt von Lara Niesen; Abb. der Grabplatte in: Säckl 1999, S. 195, Abb. 2; Titze 2007, S. 123, Abb. 177).
Erstmals urkundlich greifbar wird die Karriere des späteren herzoglich-sächsischen und preußischen Landbaumeisters mit einer auf den 25. November 1680 datierten Bestallungsurkunde. Darin ernennt Herzog Johann Adolf I. von Sachsen-Weißenfels (reg. 1680-1697) Christoph Pitzler zu einem „Adjunkto“ der „Silber-Cammer“ am Weißenfelser Hof: Damit war Pitzler Mitglied der Hofgesellschaft geworden, wenn auch im niedrigen Rang eines Aufsehers über das fürstliche Tafelsilber (s. Niemann 1927, S. 45, Anm. 13; Heckmann, S. 77; Säckl 1999). Wie einem autobiografischen Passus seines späteren Reiseberichts zu entnehmen ist, interessierte sich Pitzler seit seiner Jugend für „Architectur und Fortification“ (Zitat aus S. 1 von Pitzlers Reisetagebuch, die in der hiesigen Edition nicht wiedergegeben wird; s. Gurlitt 1922, S. 152; Niemann 1927, S. 43).
Das Herzogtum Sachsen-Weißenfels war 1657 als eines von drei Sekundogeniturfürstentümern des kursächsisch-albertinischen Hauses für die drei nachgeborenen Söhne von Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen geschaffen worden, die in den Kurlanden nicht erbberechtigt waren. Mit der Einrichtung der Nebenlinie unter August von Sachsen-Weißenfels (reg. 1657-1680) wurde in der nunmehrigen Residenzstadt Weißenfels — zwischen Naumburg und Leipzig gelegen — ein großzügiger Schlossneubau begonnen. Dazu wurden die Ruinen der 1644/45 — in der Spätphase des Dreißigjährigen Kriegs — schwer beschädigte Burg Weißenfels oberhalb der Stadt abgetragen und 1660 mit dem Bau einer dreiflügeligen Schlossanlage nach den Plänen des aus Weimar kommenden Architekten Johann Moritz Richter d. Ä. (1620-1667) begonnen. Sie erhielt den Namen Neu-Augustusburg. Der Sohn Richters, Johann Moritz Richter d. J. (1647-1705), führte schließlich die Bauarbeiten weiter, wobei Pitzler unter seiner Ägide wohl erstmals an architektonische Aufgaben herangeführt worden sein wird. Als sich Richter d. J. ab 1684 in den Dienst von Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth begab, ohne jedoch seine Tätigkeit in Sachsen-Weißenfels bereits ganz aufzugeben, wird der seit 1680 regierende Sohn Augusts, Herzog Johann Adolf I., aktiv die weitere Ausbildung Christoph Pitzlers gefördert haben (s. Säckl 1999, S. 187). Pitzler wurde auf eine dreijährige europäische Bildungsreise geschickt, höchstwahrscheinlich mit finanzieller Unterstützung des Herzogs: Am 15. Mai 1685 trat er seine Reise an, die ihn zunächst über Gotha, Frankfurt, Utrecht, Amsterdam, Antwerpen und Brüssel nach Frankreich und insbesondere Paris führen sollte. Dort hielt er sich vom 14. Juli 1685 bis zum 15. März 1687 auf, um anschließend über Lyon nach Italien weiterzureisen, wo er zwischen dem 19. Mai 1687 und dem 12. Oktober 1687 in Rom weilte, bevor er über Venedig, Innsbruck, München, Wien, Prag, Dresden und Leipzig nach Weißenfels zurückkehrte, wo er am 3. Juli 1688 wieder anlangte (s. zur Reise durch Frankreich unter dem Reiter Visualisierungen die interaktive Karte Europa (Reiseverläufe); statische Karten des gesamten Reiseverlaufs in: Lorenz/Salge 1998, S. 10; Paulus 2011, Abb. S. 65 u. Paulus 2014, Abb. S. 101). Von dem heute nur noch teilweise rekonstruierbaren Reisetage- und Skizzenbuch wird hier der auf Frankreich bezogene Teil erstmals ediert (s. unten unter der Rubrik „Zur Quelle“).
Bereits kurze Zeit nach seiner Rückkehr wurde Christoph Pitzler zum Kammerdiener befördert. Nach Ansicht Säckls nahm er dabei zunehmend die Aufgaben des nicht mehr vor Ort tätigen Landbaumeisters Johann Moritz Richter d. J. wahr, obwohl er erst ab 1696/97 in verschiedenen Quellen auch als „Landbaumeister“ des Fürstentums tituliert wird (s. Säckl 1999, S. 188 u. 201, Anm. 47). Dieses Amt behielt Pitzler unter dem seit 1697 regierenden Herzog Johann Georg (reg. 1697-1712) offenbar bis zu seinem Tod 1707 bei. Jedoch traten weitere bzw. neue Aufgaben hinzu: Anfang Juni 1702 wurde Pitzler auch im Herzogtum Sachsen-Weißenfels-Barby zum Baumeister bestallt. Und ab 1704 intensivierten sich seine gutachterlichen Tätigkeiten im Herzogtum Magdeburg derart, dass er schon bald darauf beschloss, sich mit seiner Frau in Halle niederzulassen, das zum Herzogtum Magdeburg gehörte. Zwischen Weißenfels und Magdeburg gelegen, war Halle zudem für ihn von der Lage her günstig. Das Herzogtum Magdeburg hatte ursprünglich zu Sachsen-Weißenfels gehört, war aber 1680 aufgrund von Bestimmungen, die noch auf den Westfälischen Frieden zurückgingen, an das Kurfürstentum Brandenburg (bzw. das preußische Königshaus) gefallen. Am 21. März 1707 wurde Pitzler daher schließlich zum Baumeister in preußischen Diensten im Herzogtum Magdeburg berufen, konnte aber sein Amt aufgrund seines überraschenden Todes nicht mehr antreten (s. Niemann 1927, S. 48; Säckl 1999, S. 189).
Pitzlers aktives Wirken als Baumeister und Architekt erstreckte sich also von 1688 bis 1707: Es ist evident, dass ihm dabei sein mit dem Reiseantritt 1685 begonnenes Reisetage- und Skizzenbuch — das er im Übrigen bis August 1705 weiterführte — dabei als unschätzbarer Fundus diente. Für eine angemessene Würdigung dieser Quelle ist es wichtig, sich klar zu machen, dass Christoph Pitzler ein Autodidakt gewesen ist, der erst spät — mit Mitte Zwanzig — zum Architekten ausgebildet wurde. Dennoch gelang ihm eine beachtenswerte Karriere, wie ihm bereits von seinen Zeitgenossen attestiert wurde (s. Marperger 1711, S. 471; Heckmann 1996, S. 81, Anm. 8). Pitzlers eingeschränktes zeichnerisches Vermögen, wie es sich im Reisetage- und Skizzenbuch ausdrückt, wird also auf die fehlende professionelle Ausbildung zurückzuführen sein. Für eine angemessene Würdigung des gebauten Œuvres von Christoph Pitzler ist es zudem wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Sachsen-Weißenfels zwar aufgrund seiner geringen Landfläche als „Duodezfürstentum“ bezeichnet werden kann. Dennoch war das Fürstentum durch die dynastische Anbindung an Kursachsen wirtschaftlich potent: Die Neu-Augustusburg gehörte zu den seinerzeit spektakulärsten Residenzbauten im mitteldeutschen Raum.
Bereits kurz nach seiner Rückkehr nach Weißenfels 1688 erhielt Pitzler erste Bauaufträge: So hatte er den Ehrenhof der Dreiflügelanlage der Neu-Augustusburg nach Osten mittels eines niedrigen Mauerzugs mit Portal abzuschließen. Pitzler gestaltete die Begrenzungsmauer als schlicht verzierte oben begehbare Mauer mit Balustrade und platzierte in deren Mitte ein mit Bandrustika überzogenes, von jeweils zwei toskanischen Säulen flankiertes Eingangstor (s. Säckl/Heise 2007, Abb. S. 64f.). Die nüchterne Klarheit dieses Mauerzugs mit gerahmter Portalöffnung verrät den Einfluss Pariser Vorbilder, etwa des Palais du Luxembourg. Allerdings muss nach bisherigem Quellenstand offen bleiben, ob Pitzler tatsächlich den Schlosszugang um 1690 selbst geplant hat oder ob er dabei auf schon vorhandene Entwürfe von Johann Moritz Richter d. J. zurückgreifen konnte, die er lediglich umgesetzt oder aber auch abgewandelt hat (s. Titze 1994, S. 49-51). In den folgenden Jahren gehörten zu den baulichen Aktivitäten Pitzlers zahlreiche solche Ergänzungs-, Ausbau- oder Reparaturarbeiten:
- 1694 baute er im herzoglichen Auftrag an die Dryburg in Langensalza einen bis heute erhaltenen zweigeschossigen schlichten Südflügel (s. Säckl 1999, S. 188).
- 1697 könnte er in Halle die Zeichnung für das heute noch am sogenannten Riesenhaus in der Großen Brauhausstraße 16 erhaltene Atlantenportal geliefert haben, dessen skulpturale Ausführung dem Bildhauer Andreas Griebenstein zufiel (s. Titze 2007, S. 106f.).
- Im August 1698 wurde Pitzler mit der Umgestaltung der Zimmer der Herzogin im Weißenfelser Schloss Neu-Augustusburg, das bereits seit 1694 weitgehend fertiggestellt war, beauftragt (s. Niemann 1927, S. 46; Lorenz/Salge 1998, S. 13, Anm. 46).
- Ab 1702 führte er den von Johann Arnold Nering 1687 begonnenen Schlossbau in Barby an der Elbe fort (s. Lorenz/Salge 1998, S. 14).
- 1703 betreute er die Umbauarbeiten im Jagdschloss Klein-Friedenthal (s. Titze 2007, S. 114, Abb. 162). 1773 wurde das als gestaffelte Pavillonanlage errichte Schlösschen bereits wieder abgerissen.
- 1704 war er mit Umbauten am Schloss Neuenburg in Freyburg an der Unstrut beschäftigt; dort gestaltete er auch das Portal des Fürstenbaus, dessen Skulpturenschmuck auf seinen Bildhauerkollegen Andreas Griebenstein zurückgeht (s. Titze 2007, S. 200 u. Abb. 157, S. 113).
- 1705/06 ist Pitzler als Baumeister an der Moritzburg in Halle nachweisbar (s. Säckl 1999, S. 189).
Zudem unternahm Pitzler zahlreiche Inspektions-, aber auch Studienreisen, so innerhalb Deutschlands ab 1690 als Gutachter und Architekt, u. a. nach Merseburg, Leipzig und im August 1695 erstmals auch nach Berlin; 1701 und 1704 sollten weitere solche Reisen in die brandenburgisch-preußische Hauptstadt folgen. Ansonsten gelangte Pitzler — der dabei sein Reisetage- und Skizzenbuch fleißig weiterführte — auch nach Zeitz, Coswig, Bayreuth, Braunschweig und Hannover. Die letzte größere Fahrt, die auch im Skizzenbuch festgehalten wird, führte ihn 1705 nach Frankfurt am Main, Marburg und Kassel (s. Lorenz/Salge 1998, S. 13f.). 1706 begutachtete und kritisierte er die Soleleitung von Groß-Salze nach Schönebeck (s. Niemann 1927, S. 48, Anm. 42).
Allerdings zeichnete Christoph Pitzler auch für mehrere größere Bauvorhaben verantwortlich, die in den Dimensionen teilweise beeindrucken, aber größtenteils heute nicht mehr existieren:
- 1696 errichtete er in Weißenfels das Amtshaus der herzoglichen Hoffischerei; heute ist unter der Adresse „Promenade 9“ nur der im äußeren Erscheinungsbild rekonstruierte Bau zu sehen, der als Altersheim genutzt wird (s. Titze 2007, S. 203).
- Als spektakulärstes Werk Pitzlers muss das Reithaus in Weißenfels gelten, das der Neu-Augustusburg in östlicher Richtung gegenüber lag. Es wurde zwischen 1697 und 1706 fertiggestellt und gehörte mit einer Gesamtläge von 96 Metern zu den größten Reithallen im ganzen Reich: Es übertraf die Wiener Hofreitschule, die lediglich eine Länge von 64 Metern aufwies (s. Säckl/Heise 2007, Abb. bei Nr. II.12, S. 73). Am 31. Juli 1706 wurde der als „Palaestra Equestris“ betitelte Bau mit großartigen Festlichkeiten eingeweiht (s. Niemann 1927, S. 46). Die 1945 ausgebrannte Reithalle wurde später abgetragen und ist heute nicht mehr erhalten.
- 1700 gestaltete Christoph Pitzler im Weißenfelser Schlossgarten das Rote Lusthaus, dessen Name auf seine rote Dachdeckung zurückging (s. Titze 2007, S. 112). Das durch mutwillige Nachlässigkeit bereits eingefallene Gebäude wurde 1985 abgerissen (s. Säckl 1999, S. 197, Abb. 4).
- Ebenfalls um 1700 wurde ein weiteres originelles Lustgebäude innerhalb der Stadtmauern der Residenzstadt Weißenfels errichtet, dessen Gestaltung Pitzler zugeschrieben werden kann: ein Ballhaus (nach heutiger Terminologie eine Tennishalle) mit einer Länge von 33 Metern. Heute hat sich nur das mit dem Wappen und den Initialen JG des damals regierenden Herzogs Johann Georg verzierte Vorderhaus erhalten; zu welchem Zeitpunkt die eigentliche Ballhalle verschwand, ist nicht bekannt (s. Säckl/Heise 2007, Abb. bei Nr. II.13, S. 73f.). Bezeichnenderweise hatte Pitzler bereits auf seiner Frankreichreise mehrere solcher Ballspielhallen in Paris genau studiert und sich deren Maße notiert (s. die hiesige Edition, S. 80-83). Es bleibt die Frage, ob bereits schon in den 1680er Jahren die Errichtung einer solchen Ballspielhalle in Weißenfels erwogen wurde.
Die angeführten Beispiele zeigen, dass es sich verlohnt, die erhaltenen Aufzeichnungen Pitzlers von seinem Frankreichaufenthalt genau zu studieren und sich jeweils zu fragen, warum sich Pitzler für bestimmte Details interessierte. Die Rückbindung an die von ihm dann geleiteten Bauaufgaben bleibt ein Desiderat der Forschung. Ein Portrait Pitzlers hat sich bisher nicht gefunden; lediglich der oben erwähnte Grabstein in der Laurentiuskirche in Halle hat sich erhalten.
Zur Quelle
Das Skizzen- bzw. Reisetagebuch ist vermutlich Ende des Zweiten Weltkriegs verbrannt; es muss heute als verloren gelten. Ehemals befand es sich in der Bibliothek der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg (Inv.-Nr.: 9436). Ende des 18. Jahrhunderts hatte es dem preußischen Architekten Friedrich Gilly gehört (s. Bollé/Ocón Fernández 2019, S. 365). Der Titel Mein, Christoph Pitzlers Reysebeschreibung durch Teutschland, Holland, Spanische Niederlande, Franck-Reich und Italien, Was in demselben meiner Profession zuständig merckwurdiges gesehen, bloß zur nachricht endworffen und beschrieben ist aus der älteren Forschung übernommen, die sich noch auf das — heute nicht mehr vorhandene — Titelblatt des Reisetagebuchs stützen konnte (s. u. a. Gurlitt 1889, S. 478 u. Gurlitt 1922, S. 151). Das ursprünglich mit einem Ledereinband versehene Manuskript — im Quartformat der Größe 16,5 x 20,5 cm — umfasste 1052 Seiten. Nur ein Bruchteil dieser Seiten hat sich als Abbildungen auf Glasnegativen aus der Vorkriegszeit erhalten, die heute in Potsdam in der Graphischen Sammlung der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg verwahrt werden. Abgesehen von dem hier reproduzierten Frankreichteil sind vor allem noch Abbildungen derjenigen Seiten, die Bauwerke in Berlin und dem brandenburgischen Umland zeigten, vorhanden (s. die Edition von Lorenz/Salge 1998). Der Italien gewidmete Abschnitt ist aber verloren, ebenso wie der über 400 Seiten umfassende Schlussteil mit Exzerpten Pitzlers aus verschiedenen Traktaten, u. a. solchen von Leonhard Christoph Sturm (vollständige Auflistung des ehem. Umfangs des Reise- und Skizzenbuchs ebd., Anhang IV, S. 223-234). Die von der Hand Pitzlers stammenden Texte sind in deutscher Kurrentschrift geschrieben; fremdsprachige Ausdrücke werden allerdings in lateinischen Buchstaben wiedergegeben. Ab und an handelt es sich um Abschriften oder Übersetzungen aus der Guidenliteratur. Zahlreiche, oft kleinteilige Zeichnungen Pitzlers, die teilweise in Bleistift angelegt und dann mit der Feder nachgezogen wurden, sind mit begleitenden Textpassagen und Erläuterungen versehen. Es ist anzunehmen, dass die Zeichnungen zumindest teilweise in unmittelbarer Anschauung der Objekte angelegt und beschriftet wurden, mit Ausnahme der zahlreichen Kopien nach Grafikvorlagen.
Obwohl Pitzlers Dokument seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt ist, wurde der Abschnitt zu Frankreich nie in seiner Gesamtheit untersucht (s. Forschungsstand); er wird hier erstmals vollständig vorgestellt. Von den Skizzenbuchseiten, die auf den Frankreichaufenthalt Pitzlers Bezug nehmen, haben sich 139 Seiten auf Glasnegativen erhalten (wobei 3 davon Doppelseiten sind, die damals jeweils als voneinander getrennte Einzelseiten aufgenommen worden sind, weswegen hiesige Edition 142 Ansichten aufführt). Von besagten Glasnegativen wurden die hier gezeigten Digitalisate gewonnen. Auf jedem Negativ sind stets mehrere Seiten festgehalten; teilweise sind die Seiten in beschnittenem oder unbeschnittenem Zustand, in Schwarzweiß oder aber in Farbe, wiedergeben. Das erklärt auch die unterschiedliche Erscheinungsweise der Digitalisate. Die Seiten sind meist oben rechts durchnummeriert, wohl nicht von der Hand Pitzlers. Mehrere Blätter sind verloren, weswegen die hiesige Seitenfolge Unterbrechungen aufweist. Zu folgenden Seiten fehlen Reproduktionen: 84, 117, 145, 146, 150, 151, 153, 172, 173, 179, 188-196, 202-206 u. 211.
Forschungsstand
Cornelius Gurlitt wies erstmals 1889 auf das damals noch in der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg befindliche Reisetagebuch Christoph Pitzlers hin (s. Gurlitt 1889); 1922 ließ er eine ausführlichere Untersuchung des Dokuments folgen (s. Gurlitt 1922). Unter diesen älteren Studien ist noch diejenige von Neumann substantiell (s. Neumann 1927).
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich immer wieder einzelne Forscher*innen beiderseits des Rheins dieses unter anderem für die Erfassung der französischen Baukunst durch einen deutschen Architekten so aussagekräftigen Quellenwerks bedient, allerdings immer nur punktuell im Rahmen von gezielten Einzeluntersuchungen (s. Ganay 1962; Couzy 1977; Weber 1985). Eine kritische Edition des auf Frankreich bezogenen Teils wurde bisher nicht unternommen. In methodologischer Hinsicht muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass der Frankreichteil des Reisetage- und Skizzenbuchs — so wertvoll er als weitgehend geschlossen erhaltener Bestandteil auch ist — immer auch im Licht der übrigen, wenn auch verlorenen Partien der Handschrift beurteilt werden sollte, also den umfangreichen Abschnitten zu Italien sowie den vielen Exzerpten aus der Traktatliteratur, die Pitzler angefertigt hatte (s. oben unter der Rubrik „Zur Quelle“).
Ein entscheidender Fortschritt gelang der Pitzler-Forschung mit der von Hellmut Lorenz und Christiane Salge 1998 vorgelegten kommentierten Edition der ca. 50 Seiten nach den noch auffindbaren Fotografien und Bilddokumenten, die Bauwerke in Berlin und dem brandenburgischen Umland betreffen (s. Lorenz/Salge 1998). Dieses Grundlagenwerk fasst den damaligen Forschungsstand zusammen und bietet unter anderem eine wertvolle Auflistung des rekonstruierten Gesamtumfangs des Reisetagebuchs (ebd., S. 223-234); mit der hier vorgelegten Web-Edition erfolgen allerdings einige Richtigstellungen bezüglich der dortigen Angaben zum Frankreichteil. Bei Lorenz/Salge ist auch eine nützliche grafische Darstellung des Verlaufs der Europareise Pitzlers zu finden (ebd., S. 10; s. auch Paulus 2011, Abb. S. 65 u. Paulus 2014, Abb. S. 101); bei hiesiger Online-Edition werden auf einer interaktiven Karte diejenigen Orte angezeigt, in denen Pitzler in Frankreich Station gemacht hat.
In jüngerer Zeit sind aufschlussreiche monografische Aufsätze bzw. Handbucheinträge zu Pitzler vorgelegt worden, die neben neuen biografischen Details vor allem die tatsächliche Bautätigkeit Christoph Pitzlers im Herzogtum Sachsen-Weißenfels und darüber hinaus deutlicher umreißen (s. Titze 1994; Heckmann 1996; Säckl 1999). Säckl hat zudem grundlegend die politisch-kulturellen Rahmenbedingungen ergründet, in denen Pitzler als Hofarchitekt und Höfling im Fürstentum Sachsen-Weißenfels, einer Sekundogenitur der albertinischen Wettiner, agieren musste (s. Säckl/Heise 2007, S. 33-60).
Pitzlers Auseinandersetzung mit Schloss und Garten von Versailles ist bereits intensiver erforscht worden (s. Ziegler 2010 bzw. 2013; Dölle 2014 u. 2015). Paulus hat die Reise Pitzlers in den breiteren Zusammenhang der Architektenreisen zwischen Früher Neuzeit und Moderne eingeordnet (s. Paulus 2011, S. 63-66). Es ist zu hoffen, dass die hiesige Edition des Frankreichteils und die Dissertation, die Florian Dölle als Mitarbeiter im Projekt ARCHITRAVE zum Thema Paris und Versailles in Skizzenbüchern reisender Architekten um 1700 vorlegen wird, die Beschäftigung mit Pitzlers Reisetage- und Skizzenbuch auf eine neue Stufe heben wird.
Highlights auf einen Klick
Zeichnerische Erfassung von Pariser Bürgerhäusern aus der eigenen Anschauung, aber wahrscheinlich auch nach Vorlagen aus Katalogen von örtlichen Baumeistern, was die fehlende Wiedergabe von Kaminen und Brandmauern erklären mag (S. 49 u. 50).
Erwähnung des Aufenthalts des Erbprinzen Johann Georg von Sachsen in Paris zwischen dem 29. September 1685 und dem 29. Mai 1686 und zeichnerische Wiedergabe seiner Unterkunft in der Rue de l’Université (S. 52).
Zahlreich sind die Hinweise zu den Gestaltungen von Marmorfußböden in verschiedenen Kirchen und Stadtpalästen. Dabei liefert Pitzler wohl die einzige bisher bekannte Zeichnung des Marmorbodens des Vestibüls vom Hôtel de La Vrillière in Paris (S. 61 u. S. 104).
Bei den königlichen Palästen wird besonders auf das Palais du Luxembourg und seinen Garten eingegangen (S. 62, 63, 64, 65, 66, 67) sowie auf den Tuilerienpalast (S. 68, 87, 88, 89) unter Erwähnung der beiden Theatersäle: der Salle de Ballet im südlichen Pavillon de Flore (S. 88) und der größere Opernsaal, der Salle des Machines im Nordflügel (S. 89).
Die Darstellung der Decke der Heinrichsgalerie im Ostflügel des Palais du Luxembourg scheint eine der frühesten zeichnerischen Überlieferungen dieses Interieurs überhaupt zu sein (S. 66).
Unter den Pariser Kirchbauten setzt sich Pitzler besonders mit der königlichen Stiftung der Abteikirche Val-de-Grâce auseinander: Ausführlich wird die Kirche — wohl größtenteils basierend auf eigener Anschauung vor Ort — zeichnerisch erfasst, samt der Marmorböden (S. 95, 96, 97, 98).
Ausführlich wird auf Schloss und Garten von Versailles eingegangen (vor allem S. 119-144). Immer wieder werden dabei eigenständige Beobachtungen gemacht, die sich nicht aus der ansonsten von Pitzler häufig verwendeten zeitgenössischen Guidenliteratur ableiten lassen, etwa die Erwähnung der Ausstellung von Modellen befestigter Städte im Salon de la Guerre, bevor sie in die Sammlung der sog. Plans-Reliefs überführt wurden (S. 130) (s. diesbezüglich auch Corfey, S. 21); die zeichnerische Erfassung des königlichen Bettes (S. 129) oder Hinweise zur Fußbodengestaltung in Versailles (S. 131).
Zeichnerische Erfassung und Beschreibung des Hebemechanismus der Maschine von Marly (S. 141, 142, 143); Bewunderung für diese großangelegte Pumpanlage an der Seine äußern später auch die Brüder Corfey (s. dort, S. 80f. u. 86), Knesebeck (s. dort, fol. 59r u. v) bzw. Sturm (s. dort, S. 109) und Neumann (s. dort, Brief aus Paris vom 15. Februar 1723).
Bibliografie
Bollé/Ocón Fernández 2019: Michael Bollé u. María Ocón Fernández, Die Büchersammlung Friedrich Gillys (1772-1800). Provenienz und Schicksal einer Architektenbibliothek im theoretischen Kontext des 18. Jahrhunderts, Berlin: Gebr. Mann Verlag, 2019.
Couzy 1977: Hélène Couzy, Le château de Noisy-le-Roi, in: Revue de l’art 38, 1977, S. 23-34.
Dölle 2015: Florian Dölle, Mit eigenen und mit fremden Augen: Versailles in Christoph Pitzlers Reiseskizzenbuch von 1686, in: Der Künstler in der Fremde. Migration — Reise — Exil, hg. v. Uwe Fleckner, Maike Steinkamp u. Hendrik Ziegler, Berlin: De Gruyter, 2015 (= Mnemosyne. Schriften des Internationalen Warburg-Kollegs), S. 87-105.
Ganay 1962: Ernest de Ganay, André Le Nostre 1613-1700, Paris: Vincent, Fréal et Cie, 1962 (= Les grands architectes).
Gurlitt 1889: Cornelius Gurlitt, Ein altes Skizzenbuch, in: Der Bär 15, 1889, S. 478-481.
Gurlitt 1922: Cornelius Gurlitt, Drei Künstlerreisen aus dem 17. Jahrhundert, Teil III. Christoph Pitzlers Skizzenbuch (1689), in: Stadtbaukunst alter und neuer Zeit 3, 1922, H. 10/11, S. 151-155, 164-169.
Heckmann 1996: Hermann Heckmann, Chrsitoph Pitzler 1657-1707, in: id., Baumeister des Barock und Rokoko in Sachsen, Berlin: Verl. Bauwesen, 1996, S. 77-82.
Heise/Säckl 2007: Barocke Fürstenresidenzen an Saale, Unstrut und Elster, hg. vom Museumsverbund „Die fünf Ungleichen e. V.“ und dem Museum Schloss Moritzburg Zeitz, Gesamtredaktion Joachim Säckl u. Karin Heise, Petersberg: Michael Imhof, 2007.
Lorenz/Salge 1998: Berliner Baukunst der Barockzeit. Die Zeichnungen und Notizen aus dem Reisetagebuch des Architekten Christoph Pitzler (1657-1707), hg. v. Hellmut Lorenz, Redaktion Christiane Salge, Berlin: Nicolai, 1998.
Marperger 1711: Paul Jacob Marperger, Historie und Leben der berühmtesten Europäischen Baumeister [...], Hamburg: Schiller, 1711.
Niemann 1927: W. B. Niemann, Der Herzoglich Sächsische Baumeister Christoph Pitzler, in: Zeitschrift für Bauwesen 77, 1927, S. 43-48.
Paulus 2011: Simon Paulus, Deutsche Architektenreisen — zwischen Renaissance und Moderne, Petersberg: Michael Imhof, 2011.
Paulus 2014: Simon Paulus, „Ein- und andere Örther“. Zur Reflexion des „Donauraums“ als Architekturlandschaft im Reisebericht der Frühen Neuzeit, in: Barocke Kunst und Kultur im Donauraum. Beiträge zum Internationalen Wissenschaftskongress 9.-13. April 2013 in Passau und Linz, hg. v. Karl Möseneder, Michael Thimann u. Adolf Hofstetter, Redaktion Ludger Drost, 2 Bde., Petersberg: Michael Imhof, 2014, Bd. I, S. 100-112.
Pitzler 2014: Florian Dölle, Étude du voyage en France et du séjour à Versailles de Christoph Pitzler, extrait de son carnet d’esquisses (1685-1688) conservé à la Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, in: Bulletin du Centre de recherche du château de Versailles, 2014 [online verfügbar]. URL : http://journals.openedition.org/crcv/12347 ; DOI : https://doi.org/10.4000/crcv.12347.
Säckl 1999: Joachim Säckl, Zum Leben und Wirken des Fürstlich Sächsischen Landbaumeisters Christoph Pitzler, in: Burgen und Schlösser in Sachsen-Anhalt: Mitteilungen der Landesgruppe Sachsen-Anhalt der Deutschen Burgenvereinigung e.V. 8, 1999, S. 185-204.
Titze 1994: Mario Titze, Der Schloßbau zu Weißenfels in seiner Bedeutung für die Geschichte der Kunst des 17. Jahrhunderts in Mitteldeutschland, in: 300 Jahre Schloß Neu-Augustusburg, 1660-1694: Residenz der Herzöge von Sachsen-Weißenfels. Festschrift, hg. v. Freundeskreis Schloß Neu-Augustusburg, Weißenfels: Freundeskreis Schloss Neu-Augustusburg, 1994, S. 37-56.
Titze 2007: Mario Titze, Barockskulptur im Herzogtum Sachsen-Weißenfels, Petersberg: Michael Imhof, 2007 (= Denkmalorte, Denkmalwerte, hg. v. Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt - Landesmuseum für Vorgeschichte, Bd. 4).
Weber 1985: Gerold Weber, Brunnen und Wasserkünste in Frankreich im Zeitalter von Louis XIV: mit einem typengeschichtlichen Überblick über die französischen Brunnen ab 1500, Worms: Werner’sche Verlagsgesellschaft, 1985.
Ziegler 2010: Hendrik Ziegler, Der Sonnenkönig und seine Feinde. Die Bildpropaganda Ludwigs XIV. in der Kritik. Mit einem Vorwort von Martin Warnke und einer französischen Zusammenfassung, Petersberg: Michael Imhof, 2010 (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 79).
Ziegler 2013: Hendrik Ziegler, Louis XIV et ses ennemis. Image, propagande et contestation. Vorwort v. Andreas Beyer u. Béatrix Saule, Einleitung v. Martin Warnke, übersetzt v. Aude Virey-Wallon, Paris; Saint-Denis; Versailles: Centre allemand d'histoire de l'art; Presses universitaires de Vincennes; Centre de recherche du château de Versailles, 2013.
Bearbeiter*innen
Einleitungstext: Hendrik Ziegler; kontrolliert v. Florian Dölle (unter Einbeziehung von Erkenntnissen aus seiner Magister- und Doktorarbeit) u. Marion Müller; Übersetzung ins Französische: Jean-Léon Muller.
Transkription der Edition (Pitzler): Florian Dölle, kontrolliert v. Hendrik Ziegler.
Annotation der Edition (Pitzler): Florian Dölle, Marion Müller u. Hendrik Ziegler.
Registererstellung in Deutsch und Französisch: Bastien Coulon, Florian Dölle, Angela Göbel, Anna Hartmann, Marion Müller, Alexandra Pioch u. Hendrik Ziegler; kontrolliert u. ergänzt durch Jean-Léon Muller u. Marie-Paule Rochelois.
Übersetzung der annotierten Transkription ins Französische: Florence de Peyronnet-Dryden, kontrolliert v. Hendrik Ziegler, Alexandra Pioch, Florian Dölle u. Jean-Léon Muller.
Kodierung der deutschen und französischen Edition (Pitzler): Florian Dölle, kontrolliert v. Chloé Menut, Axelle Janiak u. Mathieu Duboc.
Ferdinand Bonaventura Graf von Harrach
Die Seiten, die Ferdinand Bonaventura Graf von Harrach innerhalb seines persönlich verfassten Journals 1698 Frankreich widmet, gehören zu den originellsten und aufschlussreichsten Quellen der Geschichte der Perzeption und Beurteilung der französischen Kunst um 1700 — und das aus folgenden Gründen: Zum einen urteilt hier ein hochrangiger habsburgischer Adeliger und Diplomat, der als Bauherr und Gemäldesammler eine pragmatische Urteilsgabe ausbilden konnte, gepaart mit einem unbestechlichen Blick für Qualität. Zum anderen ist die vom Grafen eingesetzte Sprache sachlich-nüchtern, wodurch es ihm gelingt, in knapper und dabei nie herabsetzender Form einzelne Kunstproduktionen Frankreichs kritisch zu hinterfragen. Darüber hinaus hat der Graf, obwohl eigentlich inkognito in Paris, aufgrund seines Ranges Zutritt zu vielen fürstlichen Palais und privaten Hôtels particuliers: Einige seiner Beschreibungen dieser Interieurs gehören zu den einzigen, die wir aus der Feder eines damaligen Reisenden besitzen.
Zur Person
Ferdinand Bonaventura Graf von Harrach (1636-1706) stammte aus einem alten österreichisch-böhmischen Adelsgeschlecht (s. Kellenbenz 1966, S. 698f.; Pils 2002, S. 20; Harrach 2010, Bd. I, S. 187f.). Da sein Vater Otto Friedrich Graf von Harrach (1610-39) jung verstarb, wuchs Ferdinand Bonaventura in der Obhut seines Onkels Ernst Adalbert (1598-1667), Kardinal-Erzbischof von Prag, auf. Unter dessen Vormundschaft wurde er ein Spielgefährte von Erzherzog Leopold, dem späteren Kaiser (reg. 1658-1705), woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte (s. Arco-Zinneberg 1995, S. 9f.). Der spätere Diplomat im Dienste Kaiser Leopolds I. erhielt eine standesgemäße Erziehung: Nach juristischen Studien an der Universität in Wien ab 1651 absolvierte Ferdinand Bonaventura seine Grand Tour 1655-57. Dabei hörte er noch längere Zeit in Dole, der damaligen Hauptstadt der Freigrafschaft Burgund, juristische Vorlesungen an der dortigen Universität, um sich anschließend nach Brüssel und Paris zu begeben. In der französischen Kapitale weilte er im April/Mai 1657, doch der Tod von Kaiser Ferdinand III. (reg. 1637-57) erforderte die Rückkehr nach Wien. 1658-59 schloss sich noch eine Bildungsreise nach Venedig und Rom an (s. Harrach 2010, Bd. 1, S. 187).
1661 wurde Ferdinand Bonaventura erstmals als Gesandter nach Madrid geschickt. Dort heiratete er Johanna Theresia von Lamberg (1639-1716), eine Hofdame der spanischen Königin Maria Anna von Österreich, der Gemahlin von König Philipp IV. von Spanien (reg. 1621-65) (s. Oliván Santaliestra 2015). 1665 wurde der Graf abermals nach Madrid entsandt, um im Namen Leopolds I. der Infantin Margarita Teresa (1651-73), einer der Töchter König Philipps IV. und zukünftigen Frau des Kaisers, Brautgeschenke zu überreichen. 1669 folgte die erste diplomatische Mission nach Paris, zur Taufe des Herzogs Philipp von Anjou (1668-71), dem fünften Kind von Ludwig XIV. und Königin Maria-Theresia von Österreich: Ferdinand Bonaventura vertrat den Kaiser, dem die Patenschaft des Prinzen angetragen worden war. An diesen Besuch wird sich Harrach erinnern, als er fast 30 Jahre später — 1698 — wieder nach Paris kommen sollte.
In Spanien weilte Ferdinand Bonaventura 1673-77 erneut als kaiserlicher Botschafter (s. Oliván Santaliestra 2016). 1697/98 kehrte er ein drittes Mal dorthin zurück, jetzt als Sondergesandter (Ambassadeur extraordinnaire). Dabei sollte er seinem Sohn Aloys Thomas Raimund (1669-1742) assistieren, der bereits seit 1697 (und noch bis 1700) in Madrid als kaiserlicher Gesandter akkreditiert war. Anlass bildete der jederzeit zu erwartende Tod des kinderlos gebliebenen Nachfolgers Philipps IV., König Karls II., mit dem die Linie der spanischen Habsburger im Mannesstamm aussterben würde. Das politische Klima hatte sich aus Sicht Wiens zudem durch den Tod von Maria Anna von Österreich im Mai 1696 verschlechtert, die lange Zeit als Regentin für ihren kränklichen Sohn Karl II. die Geschäfte geführt hatte. Ziel der Sondermission war die Beeinflussung des Königs und seiner Entourage zugunsten einer Erbregelung im Sinne der österreichisch-habsburgischen Linie. Doch die Mission sollte letztlich scheitern: Kurz vor seinem Tod am 1. November 1700, setzte schließlich Karl II. testamentarisch den Enkel Ludwigs XIV. von Frankreich, Philipp von Anjou, als Erben ein. Während seiner Mission nach Spanien hat Ferdinand Bonaventura ein umfangreiches Tagebuch angelegt. Die Rückreise von Madrid nach Wien im Herbst 1698 nahm der Graf bewusst über Paris, um sich dort für mehrere Wochen die Stadt und seine Bauwerke sowie die Schlösser des Umlandes anschauen zu können; wir geben hier die Seiten des Tagebuchs heraus, die sich auf diesen Aufenthalt in Frankreich beziehen.
Als Ferdinand Bonaventura nach seiner Rückkehr nach Wien am 7. Dezember 1698 beim Kaiser vorsprach, ernannte ihn dieser zum Obersthofmeister (s. Gaedeke 1872, 290f.), eine Bestallung, die Anfang 1699 wirksam wurde. Harrach sollte diese Charge bis zum Tod des Kaisers 1705 innehaben. Er hatte schon zuvor verschiedene hohe Hofämter ausgeübt: Bereits nach seiner Rückkehr von seiner vorherigen Mission nach Spanien 1677 hatte ihn der Kaiser zum Oberstallmeister ernannt (s. Harrach 2010, Bd. I, S. 188). In dieser Funktion zeigt den Grafen auch ein Porträtstich nach der Zeichnung von Matthäus Küsel (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung, Inv.-Nr. PORT_00114431_01; online verfügbar im Digitalen Portraitindex).
Zur Quelle
Das Österreichische Staatsarchiv in Wien, Abteilung Allgemeines Verwaltungs-, Finanz- und Hofkammerarchiv, verwahrt das Familienarchiv Harrach als Depot. Besagtes Tagebuch des Grafen Ferdinand Bonaventura I. von Harrach vom Jahre 1697 und 1698 liegt dort unter der Signatur „Harrach-Handschrift 134“. Das in Leder gebundene, auf dem Buchrücken mit Goldprägung versehene Buch im Hochformat 28 x 20 cm umfasst 1209 Seiten. Die Seiten sind aus Papier und von der Hand des Grafen mit Tinte beschrieben. Zu beachten ist, dass nach dem Titelblatt eine getrennte Paginierung für die beiden Jahre 1697 (S. 1-677) und 1698 (S. 1-531) erfolgt. Hier wiedergegeben sind 58 Seiten aus dem zweiten Teil des Tagebuchs für das Jahr 1698 (die Seiten 455 bis 512).
Das Tagebuch war nie zur Veröffentlichung gedacht und auch keineswegs als offiziöser Rechtfertigungsbericht gegenüber Kaiser Leopold I. Vielmehr spürt man bei der Lektüre das Bedürfnis, aber auch die Fähigkeit des Grafen, die Erlebnisse eines jeden Tages in ihrer ganzen Bandbreite — von alltäglichen Begebenheiten, die auch das Wetter und den Gesundheitszustand mit einschließen, bis hin zu gewichtigen Unterhaltungen oder Erlebnissen und Eindrücken — in konziser Form festzuhalten: Das Tagebuch sollte eine persönliche Erinnerungshilfe sein, vor allem auch für die Familie und in erster Linie für die daheimgebliebene Ehefrau Johanna Theresia.
An das Abfassen von Tagebüchern bzw. „Tagzetteln“ ist der Graf seit seiner Jugend konsequent herangeführt worden; bereits während seiner erwähnten ersten Bildungsreisen verfasste er entsprechende Tagebücher, die sich im Familienarchiv erhalten haben. Sein Onkel Ernst Adalbert von Harrach wird hier einen maßgeblichen Einfluss auf den jungen Grafen gehabt und ihn dazu angehalten haben, sich im Abfassen von Tagebuchnotizen zu üben: Vom Kardinal hat sich die wohl umfangreichste Sammlung an Tagebuchaufzeichnungen erhalten, die überhaupt aus dem 17. Jahrhundert auf uns gekommen ist (s. die siebenbändige kritische Ausgabe Harrach 2010). Das tägliche Schreiben war eine Übung, der sich auch Johanna Theresia Harrach, die Ehefrau des Grafen, auf dessen Bitten unterzogen hat, vor allem als ihr Mann auf diplomatischer Mission im Ausland weilte und sie in Wien die Familienangelegenheiten allein zu führen hatte (s. Pils 2002, S. 21). Diese Schreiblust ging auch auf den Sohn über: Von Franz Anton von Harrach (1665-1727), Fürsterzbischof von Salzburg, haben sich sogenannte „Notata“ erhalten (s. Brandhuber/Rainer 2010). Ferdinand Bonaventuras Tagebuch der diplomatischen Mission von 1697/98 nach Spanien muss daher als Teil einer bewusst gepflegten intrafamiliären und sogar generationsübergreifend geführten Kommunikationsform verstanden werden (s. allg. zum Tagebuch als Quellengattung für die Erforschung der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit Mat’a 2004). Die ordentliche Schreibweise des Grafen darf also nicht verwundern und fälschlicherweise als Indiz für eine spätere Abschrift spontaner Reisenotizen gewertet werden. Dagegen spricht auch, dass im Text immer wieder Leerstellen gelassen wurden oder Wortdoppelungen und Falschschreibungen zu finden sind, die auf einen zwar konzentrierten, aber doch spontanen Schreibprozess hinweisen. Bei einer späteren Abschrift hätte man diese vermieden. Wahrscheinlich ist aber, dass der Graf zunächst auf Einzelblätter (bzw. gefaltete Bögen) geschrieben hat, die dann erst nach seiner Rückkehr in Buchform zusammengefasst und gebunden wurden. Das lässt sich daran erkennen, dass die Enden der geschriebenen Zeilen teilweise bis weit in den Falz hineingehen, was heute die Lektüre der Zeilenenden erschwert. Zudem hat das ebenfalls erhaltene Tagebuch der früheren diplomatischen Mission nach Spanien aus den 1670er Jahren einen identischen Einband. Beide Bände werden also erst zu einem späteren Zeitpunkt im 18. Jh. gebunden worden sein.
Ferdinand Bonaventura war am 13. März 1697 von Wien nach Madrid aufgebrochen; am 9. Oktober 1698 trat er seine Rückreise an und nahm dabei gezielt den Umweg über Paris, um die Stadt und ihre Kunstdenkmäler, die er von früheren Aufenthalten kannte, mit Muße besuchen zu können (s. zum Reiseverlauf innerhalb Frankreichs unter dem Reiter Visualisierungen die interaktive Europakarte). Er reiste inkognito, also ohne offiziell seinen Rang zu bekunden, um entsprechendes zeremonielles Entgegenkommen zu vermeiden. Der Graf, der zwischen dem 27. Oktober und dem 17. November in Paris weilte, besuchte die Stadt, aber auch Versailles und andere Schlösser der Île-de-France, mit dem Blick eines architektonisch versierten Bauherrn: Er hatte 1689 das alte Familienpalais an der Wiener Freyung zurückerworben, das 1658 in andere Hände gekommen und im Juli 1683, kurz vor der Türkenbelagerung Wiens, bei einem Stadtbrand stark zerstört worden war. Noch 1689 war von Ferdinand Bonaventura die Neugestaltung eingeleitet worden, die 1696 weitgehend abgeschlossen war (s. Rizzi 1995, S. 11; Karlsen 2016, S. 99-107). Auch war der Graf bereits mit Planungen für den Bau eines Pavillons im Garten seines Schlosses Prugg in Bruck an der Leitha, südöstlich von Wien, beschäftigt (s. die hier veröffentlichte Tagebucheintragung S. 487). Doch nicht nur in architektonischer Hinsicht besaß Ferdinand Bonaventura ein geschultes Urteilsvermögen; auch für die Malerei hatte er, vor allem während seiner diplomatischen Mission in Spanien, einen kennerschaftlichen Blick entwickelt und begonnen, sich eine Sammlung aufzubauen. In Paris ließ er sich von keinem geringeren als Hyacinthe Rigaud porträtieren (das Original in einer britischen Privatsammlung; eine qualitätvolle Replik aus dem Atelier von Rigaud heute in der Graf Harrach’schen Gemäldesammlung auf Schloss Rohrau; s. Arco-Zinneberg 1995, Abb. 9 u. Perreau 2013, S. 141, Kat.-Nr. PC 583). Sein Sohn Aloys Thomas Raimund sollte die Sammlung entscheidend ausbauen, vor allem als er zwischen 1728 und 1733 als Vizekönig des Königreichs Neapel amtierte. Das Königreich Neapel war im Spanischen Erbfolgekrieg 1707 von Österreich besetzt worden; seitdem wurde es von habsburgischen Vizekönigen regiert, bis es 1735 an die spanischen Bourbonen viel. Die qualitätvolle Gemäldesammlung der Familie Harrach befindet sich seit 1966 auf Schloss Rohrau in Niederösterreich (s. Arco-Zinneberg 1995, S. 4).
Forschungsstand
Das „Tagebuch des Grafen Ferdinand Bonaventura I. von Harrach vom Jahre 1697 und 1698“ ist von Arnold Gaedeke 1872 in Teilen transkribiert und ausgewertet worden. Dabei ließ Gaedeke — wie er selbst ausführt (s. Gaedeke 1872, S. 171) — all jene Passagen weg, die zwar von kultur- oder kunstgeschichtlicher Bedeutung sind, aber weniger relevant für die Rekonstruktion der diplomatischen und politischen Ereignisse im Vorfeld des Spanischen Erbfolgekriegs. Damit fielen auch die ca. 60 Seiten der Rückreise des Grafen über Paris weg, die hier erstmals vollständig ediert werden. Gaedeke erkannte bereits, dass die 1720 von einem gewissen „Monsr. de la Torre“ kompilierten „Mémoires et négociations secrettes de Ferd. Bonav. comte d'Harrach“, die noch bei Kellenbenz als ein Werk Harrachs firmieren (s. Kellenbenz 1966, S. 698f.), als Fälschung anzusehen sind und nicht auf der Kenntnis des Tagebuchs beruhen (s. Geadeke 1872, S. 170f.). Das Tagebuch des Grafen ist in der auf die Familie Harrach bezogenen kunsthistorischen Forschung bekannt; punktuell wird auch aus dem auf Frankreich bezogenen Teil zitiert (s. Lorenz 1995, S. 45f.; Ziegler 2010, vor allem S. 156-158 u. Anhang XIV, S. 299f., bzw. Ziegler 2013, S. 221-224 u. Annex XIV, S. 380f.).
Abgesehen von den bereits erwähnten, teilweise umfangreichen kritischen Editionen der Tagebücher, Tagzettel und Notata verschiedener Familienmitglieder (s. Pils 2002; Harrach 2010 u. Brandhuber/Rainer 2010) hat sich die Forschung vornehmlich auf zwei Teilaspekte konzentriert: die Erforschung der Konstituierung der Harrach’schen Gemäldesammlung (s. Arco-Zinneberg 1995; Kaltenegger 2004; Arco-Zinneberg 2012; Lindorfer 2014) und die Analyse der Strategien der Familie zur Sicherung ihres sozialen Aufstiegs und ihres Einflusses bei Hof, vor allem in der schwierigen Umbruchphase nach dem Tod Leopold I. 1705 (s. Hassler 2014). Dabei ist auch erkannt und untersucht worden, in welchem Maße Kunsterwerb — neben der Ausbildung und Pflege von Netzwerken und Patronagebeziehungen — ein bedeutender Faktor für den sozialen Aufstieg des Familienclans gewesen ist (s. Lindorfer 2009).
Aus dem hier publizierten Tagebuchauszug lässt sich gut erkennen, in welchem Maße der Graf während seines Aufenthalts in Paris von mehreren jungen Adeligen, die zu ihrer Ausbildung in der französischen Hauptstadt weilten, als wichtiger „Patron“ erachtet und entsprechend hofiert wurde. Die weitere Untersuchung solcher wechselseitigen Bestätigungen und Stärkungen sozialer Bindungen wäre möglich (s. diesbezüglich die vorbildliche Netzwerkanalyse von Veronika Hyden-Hanscho zu Alexandre Bergeret, der 37 Jahre hindurch, von 1669 bis 1706, in Paris und am Versailler Hof als Kulturagenten für Ferdinand Bonaventura Graf von Harrach agierte; Hyden-Hanscho 2013, S. 223-299). Auch lassen sich — um ein weiteres lohnendes Arbeitsfeld zu benennen — wichtige Informationen zur wandgebundenen Innendekorationen in Frankreich um 1700 aus dem Tagebuch des Grafen gewinnen. Ein Desiderat der Forschung bleibt die komplette Edition des Tagebuchs des Aufenthalts in Spanien 1697/98, das — wie bereits Gaedeke 1872, S. 171, festhielt — wertvolle Hinweise zur Kunst am spanischen Hof umfasst.
Highlights auf einen Klick
Eindringliche Schilderung der Widrigkeiten der Reise (auf der Hinreise nach Paris wird die Kutsche des Grafen fast täglich umgeworfen, S. 457, 458, 459, 460 u. 461); nach der Abfahrt aus Paris zwingen ihn die Wetterverhältnisse zu einer Zwangspause in Toul (Starkregen macht eine Brücke vor Nancy unpassierbar, S. 507).
Der Graf lässt sich während seines Aufenthalts in Paris in mehreren Sitzungen von Hyacinthe Rigaud porträtieren (S. 464, 475 u. 491), der verspricht, nicht nur ein ähnliches, sondern auch künstlerisch gestaltetes, also idealisiertes Porträt zu liefern (S. 480).
Der Graf sieht und beschreibt — was kaum in anderen Berichten zu finden ist — einige Räume des Schlosses von Saint-Cloud, der Residenz von Monsieur, dem Bruder des Königs, und seiner Gemahlin Liselotte von der Pfalz (S. 476 u. 477).
Beschreibungen weiterer königlicher Bauten, wie dem Garde-Meuble de la Couronne im Hôtel du Petit-Bourbon (S. 471), aber auch sonst selten oder kaum von Reisenden erwähnter Privatinterieurs, wie etwa die des Herrn Dorat, Quai Malaquai (S. 472).
Beim Besuch des Schlosses von Versailles kritisiert der baukundige Graf die aufwendige Beleuchtung der Gesandtentreppe von oben mittels einer Glasverriere (S. 481f.).
Erwähnt werden die im Quartier Saint-Germain u. a. von Longpré und von Bernardi betriebenen Ritterakademien, in denen sich zahlreiche Söhne europäischer Adeliger ausbilden lassen, die der Graf nennt (S. 487); einige dieser jungen, zur Ausbildung oder zur Absolvierung eines „Praktikums“ an den Gesandtschaften in Paris weilenden Adeligen machen dem Graf ihre Aufwartung (S. 463 u. 465).
Bibliografie
Arco-Zinneberg 1995: Schloß Rohrau — Graf Harrach’sche Gemäldesammlung, hg. v. Ulrich Arco-Zinneberg, Rohrau: Schloßmuseum Rohrau, 1995.
Arco-Zinneberg 2012: Ulrich Arco-Zinneberg, Schloss Rohrau, Graf Harrach’sche Familiensammlung, Regensburg, Schnell & Steiner, 2012 (= Kleine Kunstführer, Bd. 960).
Brandhuber/Rainer 2010: Christoph Brandhuber u. Werner Rainer, Ein Fürst führt Tagebuch. Die „Notata“ des Salzburger Fürsterzbischofs Franz Anton Fürsten von Harrach (1665—1727), in: Salzburg Archiv 34, 2010, S. 205-262.
Gaedeke 1872: Arnold Gaedeke, Das Tagebuch des Grafen Ferdinand Bonaventura von Harrach während seines Aufenthalts am Spanischen Hofe in den Jahren 1697 und 1698 nebst zwei geheimen Instructionen, in: Archiv für Österreichische Geschichte 48, 1872, S. 163-302.
Harrach 2010: Die Diarien und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach (1598-1667), hg. v. Katrin Keller u. Alessandro Catalano, 7 Bde., Köln; Wien; Weimar: Böhlau, 2010 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd. 104).
Hassler 2014: Éric Hassler, Les Harrach face à la disgrâce. Les stratégies matrimoniales d’un lignage aristocratique autrichien à la fin du XVIIe siècle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 2014/2, Nr. 61-2, S. 176-201.
Hyden-Hanscho 2013: Veronika Hyden-Hanscho, Reisende, Migranten, Kulturmanager. Mittlerpersönlichkeiten zwischen Frankreich und dem Wiener Hof (1630-1730), Stuttgart: Franz Steiner 2013 (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte — Beihefte, Bd. 221).
Kaltenegger 2004: Ruth Kaltenegger, Die Familie Harrach, das Königreich Neapel und Aufträge für Salzburg: familiäre Machtbestrebungen und die Auswirkungen auf eine aktive Kunstpolitik, in: Kunstgeschichte. Mitteilungen des Verbandes Österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker 20/21, 2003/04 (2004), S. 34-39.
Karlsen 2016: Anja Karlsen, Das mitteleuropäische Treppenhaus des 17. und 18. Jahrhunderts als Schaubühne repräsentativer Inszenierung: Architektur, künstlerische Ausstattung und Rezeption, Petersberg: Michael Imhof Verlag, 2016.
Kellenbenz 1966: Hermann Kellenbenz, Harrach, Ferdinand Bonaventura Graf von, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin: Duncker & Humblot, 1966, S. 698f. https://www.deutsche-biographie.de/pnd116484225.html#ndbcontent.
Lindorfer 2009: Bianca Maria Lindorfer, Cosmopolitan Aristocracy and the Diffusion of Baroque Culture: Cultural Transfer from Spain to Austria in the Seventeenth Century, PhD thesis, European University Institute, Department of History and Civilization, Florenz 2009 [unveröffentlichtes, aber online einsehbares Typoskript: http://hdl.handle.net/1814/12037].
Lindorfer 2014: Bianca Maria Lindorfer, Ferdinand Bonaventura von Harrach (1637-1706) und die Anfänge der Gräflich Harrach’schen Gemäldegalerie, in: Frühneuzeit-Info 25, 2014, S. 99-112.
Lorenz 1995: Hellmut Lorenz, Domenico Martinelli und das Palais Harrach, in: Palais Harrach. Geschichte, Revitalisierung und Restaurierung des Hauses an der Freyung in Wien, hg. v. der Österreichischen Realitäten-Aktiengesellschaft, Wien: Universitätsverlag Rudolf Trauner, 1995, S. 41-50.
Mat’a 2004: Petr Mat’a, Tagebücher, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.-18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, hg. v. Josef Pauser, Martin Scheutz u. Thomas Winkelbauer, Wien, München: Oldenbourg, 2004 (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 44), S. 767-780.
Oliván Santaliestra 2015: Laura Oliván Santaliestra, Johanna Theresia Lamberg. The Countess of Harrach and the Cultivation of the Body between Madrid and Vienna (1653—1716), in: Early Modern Dynastic Marriages and Cultural Transfer, hg. v. Joan-Lluís Palos u. Magdalena S. Sánchez, Farnham, Burlington: Ashgate, 2015, S. 213-234.
Oliván Santaliestra 2016: Laura Oliván Santaliestra, Idas y vueltas de un matrimonio de embajadores: memoria, identidad y género en los relatos de viaje de Fernando Bonaventura y Johanna Theresia Harrach (1673-1677), in: Espacio, Tiempo y Forma, Serie IV: Historia Moderna 29, 2016, S. 39-64. https://doi.org/10.5944/etfiv.29.2016.16802.
Perreau 2013: Stéphan Perreau, Hyacinthe Rigaud (1659-1743) : catalogue concis de l’œuvre, Sète: Nouv. Presses du Languedoc, 2013.
Pils 2002: Susanne Claudine Pils, Schreiben über Stadt: das Wien der Johanna Theresia Harrach 1639-1716, Wien: Deuticke, 2002.
Rizzi 1995: Wilhelm Georg Rizzi, Das Palais Harrach auf der Freyung, in: Palais Harrach. Geschichte, Revitalisierung und Restaurierung des Hauses an der Freyung in Wien, hg. v. der Österreichischen Realitäten-Aktiengesellschaft, Wien: Universitätsverlag Rudolf Trauner, 1995, S. 11-40.
Ziegler 2010: Hendrik Ziegler, Der Sonnenkönig und seine Feinde. Die Bildpropaganda Ludwigs XIV. in der Kritik. Mit einem Vorwort von Martin Warnke und einer französischen Zusammenfassung, Petersberg: Michael Imhof, 2010 (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 79).
Ziegler 2013: Hendrik Ziegler, Louis XIV et ses ennemis. Image, propagande et contestation. Vorwort v. Andreas Beyer u. Béatrix Saule, Einleitung v. Martin Warnke, übersetzt v. Aude Virey-Wallon, Paris, Saint-Denis: Presses Universitaires de Vincennes, 2013.
Bearbeiter*innen
Einleitungstext: Hendrik Ziegler, kontrolliert v. Marion Müller, Florian Dölle u. Pia Wallnig; Übersetzung ins Französische: Jean-Léon Muller.
Transkription der Edition (Harrach): Marion Müller, kontrolliert v. Hendrik Ziegler.
Annotation der Edition (Harrach): Marion Müller, Hendrik Ziegler u. Nicole Taubes.
Registererstellung in Deutsch und Französisch: Bastien Coulon, Florian Dölle, Angela Göbel, Anna Hartmann, Marion Müller, Alexandra Pioch u. Hendrik Ziegler; kontrolliert u. ergänzt durch Jean-Léon Muller u. Marie-Paule Rochelois.
Übersetzung der annotierten Transkription ins Französische: Nicole Taubes, kontrolliert v. Hendrik Ziegler, Marion Müller u. Alexandra Pioch.
Kodierung der deutschen und französischen Edition (Harrach): Marion Müller, kontrolliert v. Chloé Menut, Axelle Janiak u. Mathieu Duboc.
Lambert Friedrich Corfey
Das Reisejournal von Lambert Friedrich Corfey gehört zwar noch in die lange Traditionslinie humanistischer Reisebeschreibungen, zu deren wesentlichen Merkmalen das Aufzählen von Merkwürdigkeiten und Kuriositäten und vor allem das mit leidenschaftlicher Akribie betriebene Erfassen lateinischer Bau- und Denkmalinschriften gehört. Allerdings — und das macht die Besonderheit dieser Quelle aus — schildern Lambert Friedrich und sein mit ihm reisender jüngerer Bruder Christian Heinrich Corfey neben den sie interessierenden Bauten und technischen Errungenschaften auch ihre individuellen Reiseeindrücke: Land und Leute, Landschaften, religiöse Bräuche erhalten bereits einen Platz im Reisebericht. Damit weist das Journal von Lambert Friedrich Corfey eine Hybridität auf, die ein Charakteristikum der Übergangsphase zwischen Späthumanismus und Frühaufklärung zu sein scheint, ohne dass die Forschung dies bisher genügend erkannt hätte.
Zur Person
Der Artillerieoffizier, Militäringenieur und Architekt Lambert Friedrich Corfey d. J. (1668-1733) wurde am 11. Oktober 1668 in Warendorf, einer Stadt östlich von Münster, als erstes von insgesamt sechs Kindern des Artillerieoffiziers Lambert Friedrich Corfey d. Ä. (1645-1700) und dessen Frau Magdalena Middendorf geboren, der Tochter des örtlichen Bürgermeisters (s. allg. zur Biografie Corfeys d. J. Rensing 1936; Corfey 1977, S. 1-14; Luckhardt 1978, S. 27-47; Lahrkamp 1987; Dethlefs 2000). Im Juli 1670 kam der zweitgeborene Sohn Christian Heinrich zur Welt († 1752), der später unzertrennliche Begleiter seines älteren Bruders.
Der Vater Lambert Friedrich Corfey d. Ä. stieg bis zum Brigadier, Kommandanten von Warendorf und Chef der gesamten münsterschen Artillerie auf. Als geschätzter Geschützspezialist wurde er sogar 1688 zur Belagerung Belgrads, das von den Osmanen gehalten wurde, zu den kaiserlichen Truppen abgestellt (s. Dethlefs 1977). Seinen beiden Söhnen ließ er eine gründliche humanistische Schulbildung zukommen: Wahrscheinlich besuchten sie das Gymnasium der Franziskaner in Warendorf, sicher 1680/81 das Jesuitengymnasium Carolinum in Osnabrück und anschließend wohl das Paulinum in Münster. Schließlich traten Lambert Friedrich und Christian Heinrich in die Fußstapfen ihres Vaters und absolvierten ihre militärische Ausbildung in dessen Regiment. Corfey d. J. hat wohl auch seinen Vater nach Belgrad begleitet; im Pfälzischen Erbfolgekrieg stand er bis 1697 bei den münsterschen Truppen am Oberrhein und an der Maas im Verband der Reichsarmee gegen die Franzosen (s. Corfey 1977, S. 3). Gemeinsam traten beide Brüder — Lambert Friedrich im Rang eines Hauptmanns, sein Bruder Christian Heinrich als Leutnant — 1698 bis 1700 ihre Bildungsreise an, die sie durch die Niederlande, Flandern, Frankreich und Italien führen sollte. Lambert Friedrich Corfey trug die gemeinsamen Reiseeindrücke in dem hier edierten Tagebuch zusammen. Wie auf der ersten Seite dieses Tagebuchs angegeben, erfolgte die Unternehmung mit Genehmigung ihres obersten Dienstherrn, Fürstbischof Friedrich Christian von Plettenberg (1644-1706), der seit 1688 das Fürstbistum Münster regierte. Allerdings trugen die Brüder die Kosten der Reise selber (s. Lahrkamp 1987, S. 80). Der längere Aufenthalt in Paris zwischen Anfang Juli 1698 und Anfang Juni 1699 sollte nicht nur dem Studium der Bau- und Kunstdenkmäler der französischen Hauptstadt und der Île-de-France dienen, sondern auch dem Besuch einer der Ritterakademien im Quartier Saint-Germain; daran schloss sich ein mehrmonatiger Sprachunterricht von Mitte Juni bis Anfang September 1699 in Angers zur Perfektionierung der französischen Sprache an (s. zur Bedeutung von Angers als Ausbildungsort für Ausländer auf deren Kavalierstour Bepler 1988, S. 143). Als Artillerieoffiziere interessieren sich Lambert Friedrich und sein Bruder Christian Heinrich auf ihrer Reise nicht nur für antike und zeitgenössische Kunst und Architektur, sondern auch für Festungsanlagen und Werke der Ingenieurskunst, wie Pumpen, Kanäle, Straßen und Brücken: In Südfrankreich befuhren sie den erst seit 1681 fertiggestellten Canal du Midi, von dessen Schleusenanlagen sie fasziniert waren. Vor Antritt der Reise war Lambert Friedrich noch nicht als planender Architekt hervorgetreten. Das mag erklären, warum im Tagebuch die Beschreibungen von Bauwerken und deren allgemeine Würdigung zwar einen großen Raum einnehmen, aber kaum auf gestalterische oder konstruktive Besonderheiten und Details eingegangen wird.
Nach seiner Rückkehr wurde Lambert Friedrich 1701 zum Major ernannt, 1713 zum Obristleutnant und 1719 zum Obristen. In der Karriere Lambert Friedrichs hat es indessen auch eine turbulente Phase gegeben: Bei der Wahl des neuen Fürstbischofs 1706 hatte er für den Kandidaten der kaiserlichen Partei Salut schießen lassen, dem schließlich unterlegenen Osnabrücker Fürstbischof Karl Joseph von Lothringen. Daraufhin wurde er 1707 unter dem neuen Fürstbischof Franz Arnold von Wolff-Metternich zur Gracht nach Meppen strafversetzt und kehrte erst um 1712 wieder nach Münster zurück (s. Lahrkamp 1987, S. 84f.; Arciszewska 2002, S. 104). Kurz vor seinem Tod stieg Lambert Friedrich schließlich 1732 zum kurkölnisch-münsterschen Generalmajor auf. Sein von ihm stets unzertrennlicher Bruder Christian Heinrich, mit dem er seit 1721 gemeinsam in einem Haus in der Lamberti-Leischaft (im Lamberti-Viertel) in Münster lebte, wurde zum Ende seiner Laufbahn sogar zum Generalleutnant, Oberkommandanten der münsterschen Artillerie und Gouverneur von Warendorf ernannt (s. Corfey 1977, S. 5 u. 14).
Außerdienstlich betätigte sich Lambert Friedrich Corfey als Historiograph und Chronist des Hochstifts Münster, als leidenschaftlicher Numismatiker und als versierter und begabter lateinischer Epigrafiker. Er muss über eine umfangreiche Bibliothek und Münzsammlung verfügt haben (s. Corfey 1977, S. 10f.). Vor allem aber widmete er sich nach seiner Rückkehr autodidaktisch der Architektur: Lambert Friedrich Corfey lieferte zahlreiche Entwürfe und Gutachten zu anvisierten oder in Planung befindlichen Bauten, vornehmlich des örtlichen Adels. Wenn es zur Umsetzung solcher Planungen kam, lag sie meistens in anderen Händen, da der Artillerieoffizier berufsbedingt die Bauausführung nicht übernehmen konnte (s. Böker 1995, S. 624). Lambert Friedrich Corfey gilt als der wichtigste Vertreter eines schlichten, strengen klassizistischen Stils im Fürstbistum Münster. Seine Entwürfe und seine vereinzelt auch gebauten Kirchen, Gutshäuser, Kurien und Stadthöfe entstanden oftmals in einem inspirierenden Konkurrenzverhältnis zu dem seit 1685 amtierenden Landingenieur und Infanterieoffizier Gottfried Laurenz Pictorius (1663-1729). Corfey gehört damit wie auch Pictorius — dessen jüngerer Bruder Peter (1673-1733) ihm bei der Bauausführung assistierte und auch zahlreiche eigene Entwürfe realisierte — zu jener Generation an Militärarchitekten im Münsterland, auf deren Wirken schließlich der ebenfalls in militärischen Diensten stehende Johann Conrad Schlaun (1695-1773) aufbauen konnte. Schlaun wird die Gestaltungsprinzipien des Barockklassizismus von Corfey und Pictorius zwar nicht aufgeben, aber diese bei den Fassaden über eine komplexere motivische Schichtung auf eine repräsentativere Wirkung hin entscheidend erweitern. In der Raumdisposition gebührt Corfey, neben den Brüdern Pictorius, das Verdienst, das auf Symmetrie und Reihung basierende Schema des klassischen Appartements französischer Prägung in Westfalen zum Standard erhoben zu haben. Auch hier wird die nächste Baumeistergeneration um Schlaun dieses Schema durch eine freiere Anordnung und Verzahnung der Räume den neuesten Erfordernissen der „Commodité“ anpassen (s. zur topografischen Zuordnung und architekturgeschichtlichen Einordnung von Corfeys Œuvre Lahrkamp 1980 u. Böker 1995; zu Schlauns Rezeption französischer Raumdispositionen Krause 1995).
Hans Josef Böker hat herausgearbeitet, in welchem Maß sich die diversen architektonischen Talente in Münster — darunter vor allem der bereits genannte Gottfried Laurenz Pictorius und sein Bruder Peter Pictorius d. J., Lambert Friedrich Corfey und später auch Johann Conrad Schlaun — gegenseitig durch Entwürfe und Gegenentwürfe anregten und dabei wohl auch halfen. Dieses freundschaftlich-kollegiale, aber kompetitive Arbeitsklima erschwert es heute, einzelne Planzeichnungen eindeutig einem der Künstler zuzuschreiben und zu datieren bzw. ein Bauwerk allein einem Autor zuzuweisen (s. Böker 1995, S. 624). Lambert Friedrich Corfey hat sich planend und beratend den verschiedensten Bauaufgaben zugewandt (s. für zahlreiche Elemente zu einem Werkkatalog, der allerdings noch zu leisten wäre: Corfey 1977, S. 6-8; Lahrkamp 1980; Mummenhoff 1984; Lahrkamp 1987; Böker 1989; Böker 1990; Böker 1995; Dethlefs 2002; Arciszewska 2002, S. 97-147). Nachfolgend seien jeweils nur einige prägnante Beispiele aufgeführt:
- dem Kirchenbau (von der mittelgroßen Pfarrkirche Cloppenburg-Krapendorf bis hin zur voluminösen städtischen Klosterkirche der Dominikaner in Münster, zu deren Gestaltung und konstruktiver Realisierung er über viele Jahre zwischen 1705 und 1725 beitrug, worauf noch zurückzukommen sein wird);
- dem adeligen Gutshaus im münsterschen Umland (etwa Haus Steinfurt in Drensteinfurt, das nach seinen Plänen 1704-09 errichtet wurde, oder Haus Lütkenbeck, zu dem er die Pläne der heute noch erhaltenen Vorburg lieferte; sie besteht aus zwei vorgelagerten achteckigen Pavillons, die über geschwungene Arkadengänge mit zwei Wirtschaftsgebäuden kommunizieren; diese sind dem bereits 1720 wieder abgebrannten Herrenhaus, das Pictorius gestaltete, vorgeschaltet);
- dem adeligen Stadthof in Münster bzw. den Kurien der adeligen Domherren um den münsterschen Domplatz (etwa die Kettelersche Doppelkurie, 1712 bis 1716 nach den Plänen von Corfey errichtet, auf der Grundlage einer Vorplanung von Pictorius, s. Dethlefs 2002, der Steinfurter Hof, 1716-20, zu dem Pictorius Konkurrenzpläne vorlegte, oder die Domdechanei, die Residenz des Bischofs von Münster, die 1732 fertiggestellt wurde und bisher Pictorius oder Schlaun zugeschrieben wurde, s. Böker 1995, S. 632f.);
- dem hochherrschaftlichen Schlossbau (etwa ein Idealplan und ein Präsentationsmodell aus Holz für das Residenzschloss des Kurfürsten von Hannover in Hannover-Herrenhausen, das einen Bau in Anlehnung an die Villa Rotonda von Andrea Palladio vorsah; dieses Modell sollte eine nicht unwesentliche Rolle für die Entwicklung des Palladianismus als neuer englischer Hofstil spielen, als das Hause Hannover 1714 auf den britischen Thron gelangte, s. Böker 1989 u. Arciszewska 2002, S. 97-147);
- dem militärischen Vermessungswesen (wie etwa an einem bisher unpublizierten Plan von Marsberg von 1689 im Stadtmuseum Münster deutlich wird; Corfey kritisierte zudem den Bau des Max-Clemens-Kanals, der 1724 bis 1731 unter der Leitung des friesischen Wasserbauingenieurs Georg Michael Meetsma von Münster aus über 30 Kilometer bis Neuenkirchen in Richtung der Niederlande angelegt wurde; s. zu den Aufzeichnungen Corfeys zur Geschichte des münsterschen Max-Clemens-Kanals Corfey 1977, S. 301-324);
- dem Ausrichten von Feuerwerken (so etwa dasjenige anlässlich der Wahl des Fürstbischofs Clemens August von Bayern zum Koadjutor seines Bruders Joseph Clemens von Bayern, Erzbischof und Kurfürst von Köln, im Dezember 1722, s. Mummenhoff 1976, S. 224-227, u. Mummenhoff 1984, S. 117).
Es ist offensichtlich, welchen Nutzen Lambert Friedrich aus seiner Bildungsreise gezogen und welche mannigfachen Anregungen er durch das Gesehene erhalten hat: Aus einer durchaus für die Zeit typischen eklektischen Entwurfspraxis heraus hat er in seine Planungen, aber auch in seine baulichen Realisierungen diverse Anstöße und Ideen einfließen lassen. Neben dem niederländischen Backsteinklassizismus und der Villenarchitektur der venezianischen Terraferma hat dabei auch die französische Profan- und Sakralarchitektur eine wichtige Rolle gespielt: Die münsterschen Stadthöfe und Kurien mit ihren von der Straße zurückversetzten Corps de logis zwischen zwei voll ausgebildeten Seitenflügeln scheinen dem französischen Schema des Pariser Hôtel particulier — mit einem Wohntrakt „entre cour et jardin“ — verpflichtet. Doch wird dieses Schema in eine partikulare autochthone Form überführt: Die Vorhöfe sind nicht — wie in Frankreich — von der Straße durch eine Mauer abgetrennt, sondern bleiben von dieser her einsichtig, indem sie lediglich durch ein Gitter vom öffentlich-städtischen Raum separiert werden (s. Scheckenbach/Krause 2017, S. 64). Corfey kam innerhalb dieses Transferprozesses eine Mittlerrolle zu. Im Kirchenbau lässt sich der Einfluss des „Modells Frankreich“ am Planungsprozess der Dominikanerkirche in Münster nachverfolgen. Für die Grundrissgestaltung mit zentraler Kuppel und eingezogenem Querhaus war die Kirche der Sorbonne (1635-48 errichtet nach Plänen von Jacques Lemercier) vorbildgebend (s. Luckhardt 1978, S. 58f.). Die schließlich ausgeführte Fassade ist in der zurückhaltend flachen Wandschichtung und geringen plastischen Modellierung stark der Kirchenfront des — heute nicht mehr bestehenden — Pariser Jesuitennoviziats verpflichtet (1630-42 nach den Entwürfen des Jesuitenpaters Étienne Martellange realisiert) (s. ebd., S. 71f.). Ohne die Kenntnis der französischen Architektur aus eigener Anschauung wäre eine solche Gestaltung nicht zustande gekommen.
Lambert Friedrich Corfey starb am 18. Februar 1733 in Münster an einem Schlaganfall. Er wurde in der Grabkammer unter dem Hochalter der Dominikanerkirche begraben — einer jener Bauten, deren Gestaltung er maßgeblich mit geprägt hatte. Johann Conrad Schlaun lieferte zu Ehren seines verstorbenen Kollegen den Entwurf zu einem Epitaph, das im Kirchenraum angebracht wurde. Eine von Johann Wilhelm Güding ausgeführte lavierte Entwurfszeichnung, eine Kopie nach Schlauns verlorenem Originalentwurf, hat sich im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster erhalten (Signatur: Schlaun-Bd. 284; Entwurfszeichnung online verfügbar; s. Rensing 1936, Abb. S. 245; Mummenhoff 1984, S. 126, Abb. 118; Lahrkamp 1987, Tafel zwischen S. 84 u. 85; Matzner 1995, S. 88; Dethlefs 1996, S. 16-21 u. S. 65). Die Umsetzung des Entwurfs erfolgte durch den Bildhauer Johann Christoph Manskirch: Unter einem Flachrelief mit zwei das redende Familienwappen — Korb und Ei — vorweisenden Rittern (Mars und Pallas Athene) wurde eine schlichte Steintafel mit folgender Inschrift angebracht: „FRIDERICH. LAMBERT. VON / CORFEY. SEINER CHURFÜRST: / DURCH: ZU CÖLLEN GENERAL / MAJOR OBRISTER UND COMMEN / DANT: DER MUNSTRIS: ARTILLE:“. Das Ganze war umgeben von einer aufwendigen, skulpturalen Rahmung wahrscheinlich aus Marmorstuck mit einer Totenurne unten, Kriegsgerät und wissenschaftlichen Instrumenten zu beiden Seiten der Inschriftentafel und Pegasus oben als Abschluss. Zusätzlich zu diesem Epitaph, das eventuell in einer der Fensternischen des Langhauses angebracht war, wurde vor dem Hochaltar eine Inschriftenplatte mit einer von Corfey selbst entworfenen langen lateinischen Inschrift eingelassen (Transkription und Übersetzung der Inschrift in Corfey 1977, S. 13f.). Jedoch wurde das Epitaph in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit Ausnahme des Wappenreliefs, demontiert und zerstört und die große Inschriftenplatte vor dem Hochaltar herausgebrochen (s. Mummenhoff 1984, S. 127f.; Lahrkamp 1987, S. 98; Matzner 1995, S. 89-91). Diese beiden verbliebenen, ursprünglich nicht zusammengehörenden Teile — Relief und Inschriftentafel — wurden im Chor links hinter dem Hochalter zu einem neuen Denkmal zusammengestellt. Dieses Ensemble hat die weitgehende Zerstörung der Dominikanerkirche im Zweiten Weltkrieg überstanden und ist noch heute in der wiederaufgebauten Kirche dort zu finden (s. Corfey 1977, Abb. vor S. 1; Mummenhoff 1984, S. 126, Abb. 119).
Zur Quelle
Die hier edierte Quelle trägt den Titel „Tagebuch von Lambert Friedrich Corfey über seine Reisen durch Frankreich, Italien, Sizilien und Malta, 1698-1700“. Das Tagebuch wird seit 1924 in Münster im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, als Depositum des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Münster, unter der Signatur „Manuskripte Nr. 442“ verwahrt (s. Koppetsch 2011, S. 32, Nr. 15). Der in Leder gebundene Band im Hochformat 21 x 16 cm umfasst 519 Seiten. Er trägt auf dem Rücken die Aufschrift „Itinerar[ium] Galliae, Italiae, Siciliae, Maltae.“ und auf dem Deckel einen Papieraufkleber mit der Signatur. Die Seiten sind aus Papier und in der Handschrift Lambert Friedrich Corfeys mit schwarzer Tinte beschrieben und paginiert. Das Wappen der Familie Corfey — ein Henkelkorb mit Ei — ist oben auf Seite 1 des Manuskripts mit einem Prägestempel eingedrückt worden. Wie aus einem eingeklebten gedruckten Besitzvermerk zu entnehmen ist, befand sich der Band einst in der Bibliothek des britischen Mediävisten Robert Steele (1860-1944) in Wandsworth Common südlich von London, bevor das Manuskript über den Antiquariatshandel wieder nach Westfalen zurückgelangte.
Man kann davon ausgehen, dass Lambert Friedrich Corfey das Tagebuch aus ersten Aufzeichnungen vor Ort kompiliert und ins Reine geschrieben hat. Sein ihn begleitender Bruder Christian Heinrich Corfey wird namentlich nicht erwähnt, aber im Text ist immer wieder von „wir“ die Rede. Die Beschreibungen und wiedergegebenen Eindrücke basieren also auf den Erfahrungen der beiden gemeinsam reisenden Brüder.
Das Tagebuch deckt den Zeitraum zwischen der Abreise aus Warendorf am 18.6.1698 bis zur Rückkehr dorthin am 12.10.1700 ab. Die Reise ging zunächst über Norddeutschland, die Vereinigten Provinzen der Niederlande und die Spanischen Niederlande nach Frankeich, wo ein längerer Aufenthalt in Paris eingelegt wurde (vom 9. Juli 1698 bis zum 3. Juni 1699). Die Fahrt ging dann weiter über Angers an der Loire, wo die Brüder mehrere Monate französischen Sprachunterricht erhielten, über Südfrankreich bis nach Italien. An einen längeren Aufenthalt in Rom (vom 13. Dezember 1699 bis zum 13. April 1700) schloss sich ein Abstecher nach Neapel, Sizilien und Malta an. Die Rückreise erfolgte über Venedig, Innsbruck und Köln bis nach Münster (s. zum Reiseverlauf unter dem Reiter Visualisierungen die interaktive Karte Europa (Reiseverläufe); Koppetsch 2011, S. 32, Nr. 15; Paulus 2011, S. 38f. mit einer statischen Karte des Reiseverlaufs, u. Paulus 2014, S. 105).
Begleitend zum Tagebuch haben die Brüder Corfey sicher auch ein Skizzenbuch geführt bzw. Zeichnungen angefertigt (s. die Einträge S. 76 vom 14. September 1699 bezüglich des Manövers in Compiègne und S. 80 vom 25. September 1699 zum Besuch der Maschine von Marly). Solche Zeichnungen haben sich aber bis heute nicht wiedergefunden und müssen daher als verloren gelten (s. Corfey 1977, S. 22; Lahrkamp 1987, S. 84).
Helmut Lahrkamp, ehemaliger Direktor des Stadtarchivs in Münster, hat 1977 Corfeys Tagebuch transkribiert, annotiert und als Buch herausgegeben (s. Corfey 1977). Diese Buchfassung wurde als Ausgangspunkt der hiesigen Online-Edition verwendet. Allerdings wurde Lahrkamps Transkription kritisch am Originalmanuskript überprüft und umfassend ergänzt und verbessert. Zudem werden hier die umfangreichen lateinischen Inschriften eingefügt, die Lahrkamp in der Buchfassung weggelassen hat. Die teilweise langen lateinischen Passagen situieren die Quelle in die Umbruchzeit zwischen Späthumanismus und Frühaufklärung: Die Gebrüder Corfey verstehen sich zwar noch als gelehrte „Antiquare“, die sich vornehmlich dem Studium der antiken Monumente verschrieben haben, doch sind sie bereits zu einen unvoreingenommenen Blick auf Land und Leute fähig und lassen entsprechende Schilderungen in ihr Manuskript einfließen. Das Reisedokument ist damit in doppelter Hinsicht aufschlussreich: Zum einen steht es noch in der Tradition der Humanistenreisen, die seit dem 16. Jahrhundert vor allem zur Erfassung und Erforschung der noch verbliebenen Überreste der antiken Welt unternommen wurden (s. zur Tradition der Humanistenreise Bepler 1988, S. 28); zum anderen zeigt sich in ihm bereits eine (verhaltene) emotionale Anteilnahme am Gesehenen, die es zu einem Vorläufer der Reisebeschreibungen des Aufklärungszeitalters werden lässt (s. Lahrkamp 1987, S. 84).
Aus dem 519 Seiten umfassenden Manuskript sind in unserer digitalen Edition die Seiten 1 bis 190 wiedergegeben, vom Reiseantritt in Warendorf am 18.06.1698 bis zur Ankunft in Genua am 10.11.1699. Es wird sich hier also — aus einsichtigen Gründen der wissenschaftlichen Kohärenz des Projekts — auf die Wiedergabe des ersten Teils der Reise beschränkt, jenes Teils, der die Brüder nach Frankreich über die Vereinigten Provinzen der Niederlande und Flandern bis nach Paris führte und dann weiter über Südfrankreich bis nach Genua. Die Seitenzählung des Manuskripts springt von Seite 45 auf Seite 50, ohne dass Seiten fehlen würden. Anschließend folgt eine Seite, die nochmals mit „50“ (statt mit „51“) bezeichnet ist; die folgende Paginierung springt dann unmittelbar zu „52“, um sich dann korrekt in aufsteigender Form fortzusetzen (Seite 53, 54 usw.). Inhaltlich fehlt aber kein Text. Der Italien gewidmete Teil des Tagebuchs bleibt ausgespart (dieser in Corfey 1977, S. 121-295). Seinem Manuskript hat Corfey am Ende noch einige Aufstellungen und Indices hinzugefügt: ein Abkürzungsverzeichnis lateinischer Inschriften (im Umfang von 5 Seiten), ein Namens- und Sachregister (10 Seiten) und eine Umrechnungstabelle verschiedener Münzen in spanische Pistolen, die eine Zusammenstellung der Transportkosten einschließt (3 Seiten). Letzteres ist in Corfey 1977, S. 296-298 wiedergegeben: Demnach hatten die Brüder bis nach Genua 192 Livres an Reisekosten ausgegeben (s. ebd. S. 299).
Corfey verwendete fast durchgängig die deutsche Kurrentschrift, allerdings für lateinische, französische oder anderweitige fremdsprachige Ausdrücke lateinische Buchstaben. Dass es sich um die Handschrift Lambert Friedrich Corfeys handelt, konnte Lahrkamp durch den Vergleich mit anderen Schriften aus dessen Hand ersehen, von denen er einige weitere in seiner Edition des Tagebuchs transkribiert wiedergibt (s. Corfey 1977, S. 301-338). Auf den Vorderseiten der meisten Blätter des mit Tinte und Feder geschriebenen Reisejournals scheinen die Schriftzüge der Rückseiten durch — ein gängiges Phänomen bei derartigen Manuskripten. Allerdings haben sich auch die Schriftzüge und Marginalien vereinzelter Seiten spiegelverkehrt auf die davor- oder dahinterliegenden Seiten in schwachen grauen Schriftzügen abgedrückt. Dieses Phänomen ist vor allem auf den ersten Seiten des Manuskripts zu beobachten. Prominent hat sich etwa auf Seite 2 der Schriftzug abgedrückt, der sich auf einem vor der Seite 1 liegenden Blatt befindet. Dieses vor Seite 1 liegende Blatt wurde in diese Edition nicht mit aufgenommen, da es lediglich einen von fremder Hand angefertigten und zudem falsch datierten Vermerk enthält, dass es sich bei nachfolgendem Manuskript um eine „Anno 1697 Reyse“ der beiden Brüder Corfey handeln würde. Bereits Lahrkamp hat herausgestellt, dass es korrekterweise „1698“ heißen müsste; er gibt auch die vollständige Transkription des Vermerks wieder (s. Corfey 1977, S. 23). Keine dieser durchgedrückten Schriftzüge wurde in hiesiger Edition berücksichtigt.
Forschungsstand
Schon mehrere Forscher haben sich um die wissenschaftliche Erschließung und Einordnung des architektonischen Werks von Lambert Friedrich Corfeys verdient gemacht: Helmut Lahrkamp, Jochen Luckhardt, Karl Eugen Mummenhoff, Hans Josef Böker, Gerd Dethlefs, Barbara Arciszewska (s. Corfey 1977; Luckhardt 1978; Lahrkamp 1980; Lahrkamp 1987; Mummenhoff 1984; Böker 1989; Böker 1990; Böker 1995; Dethlefs 2002; Arciszewska 2002). Doch liegen ihre Studien schon mindestens fünfzehn Jahre zurück. Eine monografische Studie mit einem Werkkatalog zum architektonischen Œuvre Lambert Friedrich Corfeys fehlt. Der Autor des hiesigen Einleitungstextes hat eine Interpretation der im Tagebuch geschilderten Eindrücke, die Schloss und Garten von Versailles bei Lambert Friedrich und Christian Heinrich Corfey hinterlassen haben, versucht (s. Ziegler 2010, S. 168-170; Ziegler 2013, S. 212-215). Die Bildungstour der Brüder durch Westeuropa hat jüngst Simon Paulus in den breiteren Kontext der Architektenreisen eingeordnet (s. Paulus 2011, S. 38-44 u. Paulus 2014, S. 105).
Die Mittlerrolle zwischen Deutschland und Frankreich auszuloten, die Lambert Friedrich Corfey bei der Durchsetzung einer klassizistischen Baugesinnung im Alten Reich gespielt hat, bleibt ein Desiderat der Forschung. Die möglichen Berührungspunkte zu den ausformulierten theoretischen Positionen von Leonhard Christoph Sturm sind ebenfalls noch nicht untersucht. Welchen Einfluss dabei die unterschiedliche konfessionelle Zugehörigkeit von Corfey und Sturm (Katholizismus versus Pietismus, respektive Calvinismus) auf die Ausprägung eines streng-nüchternen Klassizismus in Deutschland gehabt haben könnte, wäre ein weiteres lohnendes Untersuchungsgebiet. Doch auch in Hinblick auf kulturgeschichtliche Fragen stellt das Tagebuch einen vielschichtigen Untersuchungsgegenstand dar: So hat Smets die Ansichten der Brüder über Südfrankreich und die Provence zusammengestellt (s. Smets 1998 et 2000). Im Licht der Genderforschung könnten vor allem die frauenfeindlichen Passagen im Tagebuch untersucht werden (S. 107, 111, 133-134, 166); siehe dazu auch die negativen Äußerungen in den Architectonischen Reise-Anmerckungen von Leonhard Christoph Sturm zu Frauen, die auf der Pariser Foire Saint-Germain lediglich darauf bedacht seien, die Männer zu verführen, um sie auszunehmen (ebd., S. 90).
Highlights auf einen Klick
Der nüchtern-beschreibende und das Erlebte aufzählende Schreibstil der Brüder Corfey schließt keineswegs aus, dass immer wieder treffende kritische Beobachtungen und Bemerkungen eingestreut werden: So wird etwa in Paris an der Kirche Saint-Gervais bemängelt, dass die lobenswerte Fassade durch die zu eng davor gebauten Häuser keinen genügenden Abstand zu deren Bewunderung biete (S. 32f.); oder es wird an der Pumpe der Samaritaine am Pont Neuf kritisiert, dass das Uhrwerk meist falsch ginge und das Glockenspiel weniger anziehend als solche in den Niederlanden sei (S. 40).
Außergewöhnlich sind die während des Reiseverlaufs gemachten Landschaftsschilderungen: So werden etwa die Sümpfe um Clairmarais bei Saint-Omer beschrieben und bewundert (S. 8); bei einer Fahrt auf der Seine wird die Aussicht auf die Uferlandschaft genossen (S. 99).
Das Hôtel des Invalides — die Invalidenanstalt für kriegsversehrte Soldaten — wird gewürdigt und dessen Errichtung Ludwig XIV. hoch angerechnet (S. 55-57). Mit ihrer Bewunderung dieser Sozialeinrichtung des Sonnenkönigs stehen die Brüder Corfey keineswegs allein; eine Beschreibung fehlt in kaum einer Reisebeschreibung (s. Pitzler, S. 91-94; Knesebeck, fol. 29r-32v; Sturm, S. 92-95). Ein Lichtphänomen wird beiläufig festgehalten: der Effekt des gleißenden Sonnenlichts auf der teilweise vergoldeten Kuppel des Invalidendoms (S. 56).
Die beiden Münsteraner Artillerieoffiziere schildern ausführlich ein großangelegtes Manöver in Compiègne, das vom 9. bis zum 22. September 1698 abgehalten wurde (S. 66-88).
Die Maschine von Marly wird als technische Meisterleistung gewürdigt (S. 80f.) und sogar ein lateinisches Gedicht darauf verfasst (S. 86). Die Bewunderung für diese großangelegte Pumpanlage an der Seine teilen die Brüder mit Pitzler (s. dort, S. 141-143) und Sturm (s. dort, S. 109).
In Versailles bekommen sie von Marc-Antoine Oudinet, dem Adjoint au garde du Cabinet des médailles du roi, die Münzen- und Medaillensammlung des Königs gezeigt, darunter auch die „Histoire métalique“ — jene Medaillenserie, die die Taten Ludwigs XIV. würdigt (S. 97).
Die Brüder Corfey erhalten Kontakt zu deutschen Landsleuten am Versailler Hof: Am 29. April 1699 nutzen sie die Gelegenheit, dass beim Besuch des Grafen Friedrich Christian zu Schaumburg-Lippe in Versailles die Brunnen in Betrieb gesetzt werden (S. 90); am 11. Mai 1699 unterziehen sie sich der Audienz bei Kardinal Wilhelm Egon von Fürstenberg (S. 97f.), einem alten Verbündeten Ludwigs XIV. und sicherlich Bekannten ihres Vaters aus der Zeit, als Fürstenberg 1683-1688 auch die Außenpolitik des Fürstbistums Münster gelenkt hatte, gegen den aber das Stift Münster 1689 im Rahmen einer breiten Koalition im Kölner Bistumsstreit im Krieg gestanden hatte.
Beschreibung des Pont Neuf, der in Toulouse die Garonne überspannt (S. 132): Die Brüder ergänzen eine lateinische Inschrift am Brückentor, die von der Brücke aus durch einen wild wachsenden Strauch nicht vollständig sichtbar ist; damit zeigen sie ihre Erfindungsgabe und ihr Einfühlungsvermögen im Bereich lateinischer Epigrafik (S. 133). Die Passage veranschaulicht auch, welche konkreten Behinderungen sich einem Reisenden bei der Betrachtung von Kunstwerken entgegenstellen konnten.
Würdigung des Canal du Midi, auf dem sie von Toulouse (S. 134) bis nach Marseillan, kurz vor Montpellier, reisen (S. 146) und von dem sie die mit jeder Schleuse überwundenen Höhenunterschiede genau auflisten (S. 142-146).
Bibliografie
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Bepler 1988: Jill Bepler, Ferdinand Albrecht von Braunschweig-Lüneburg (1636-1687). A Traveller and his Travelogue, Wiesbaden: Harrassowitz 1988 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 16).
Böker 1989: Hans Josef Böker, Unbekannte Planzeichnungen Lambert Friedrich von Corfeys, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 67, 1989, S. 171-183.
Böker 1990: Hans Josef Böker, Eine Planung Lambert Friedrich Corfeys für Schloss Nordkirchen, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 68, 1990, S. 89-100.
Böker 1995: Hans Josef Böker, Vorläufer und Konkurrenten: Pictorius und Corfey, in: Johann Conrad Schlaun 1695-1773. Architektur des Spätbarock in Europa, hg. v. Klaus Bußmann, Florian Matzner u. Ulrich Schulze, Ausstellungskatalog, Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1995, Stuttgart: Oktagon, 1995, S. 622-637.
Corfey 1977: Lambert Friedrich Corfey — Reisetagebuch 1698-1700, hg. v. Helmut Lahrkamp, Münster: Aschendorff, 1977 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, N. F. Bd. 9).
Dethlefs 1977: Gerd Dethlefs, Der Brigadier Lambert Friedrich Corfey (1645-1700), in: Lambert Friedrich Corfey — Reisetagebuch 1698-1700, hg. v. Helmut Lahrkamp, Münster: Aschendorff, 1977 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, N. F. Bd. 9), S. 339-355.
Dethlefs 1996: Gerd Dethlefs, Das Baubüro von Johann Conrad Schlaun. Zu den Zeichnungen Johann Conrad Schlauns und seiner Mitarbeiter, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 74, 1996 (1998), S. 1-73.
Dethlefs 2000: Gerd Dethlefs, Die Corfeys in Warendorf, in: Geschichte der Stadt Warendorf, hg. v. Paul Leidinger, 3 Bde., Warendorf: Ardey-Verl., 2000, Bd. 1, S. 705-716.
Dethlefs 2002: Gerd Dethlefs, „weylen dieses Werck zur Splendeur der Kirchen gereichet“. Die Planungen von Corfey und Pictorius für die Kettelersche Doppelkurie am Domplatz zu Münster, in: Westfalen und Italien. Festschrift für Karl Noehles zum 80. Geburtstag, hg. v. Udo Grote in Verbindung mit Hans-Joachim Hubrich, Petersberg: Michael Imhof, 2002, S. 153-171.
Koppetsch 2011: „Bin kein Schriftsteller, sondern nur ein einfacher Sohn des Waldes.“ Inventar der Selbstzeugnisse in den Beständen des Landesarchivs NRW Abteilung Westfalen, im Auftrag des Landesarchivs hg. v. Axel Koppetsch, Düsseldorf: Landesarchiv NRW, 2011 (= Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Bd. 40).
Krause 1995: Katharina Krause, Schlaun und Frankreich, in: Johann Conrad Schlaun 1695-1773. Architektur des Spätbarock in Europa, hg. v. Klaus Bußmann, Florian Matzner u. Ulrich Schulze, Ausstellungskatalog, Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1995, Stuttgart: Oktagon, 1995, S. 204-235.
Krause/Scheckenbach 2017: Katharina Krause u. Marie Scheckenbach, Haus und Straßenraum. Konstruktion und Repräsentation von Sicherheit in der Stadt, in: Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge Stadt und Hof 6, 2017, S. 57-68.
Lahrkamp 1980: Helmut Lahrkamp, Corfey und Pictorius. Notizen zur Barockarchitektur Münsters, 1700-22, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 58, 1980, S. 139-152.
Lahrkamp 1987: Helmut Lahrkamp, Lambert Friedrich Corfey, in: Westfälische Lebensbilder, Bd. 20, Münster 1987, S. 78-100.
Luckhardt 1978: Jochen Luckhardt, Die Dominikanerkirche des Lambert Friedrich Corfey zu Münster: Studien zu Geschichte, Form und Funktion einer Ordenskirche „um 1700“, Münster (Westfalen): ohne Verlagsangabe [Univ. Diss.], 1978.
Matzner 1995: Florian Matzner, „Natura Mensura Ars“. Architektur zwischen Idee und Ausführung, in: Johann Conrad Schlaun 1695-1773. Architektur des Spätbarock in Europa, hg. v. Klaus Bußmann, Florian Matzner u. Ulrich Schulze, Ausstellungskatalog, Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1995, Stuttgart: Oktagon, 1995, S. 89-117.
Mummenhoff 1976: Karl Eugen Mummenhoff, Die Feuerwerksentwürfe von Johann Conrad Schlaun, in: Schlaun als Soldat und Ingenieur, hg. v. Ulf-Dietrich Korn, Ausstellungskatalog, Münster, Stadthaus-Galerie, 1973, Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, 1976 (= Schlaunstudie, Bd. 3), S. 207-236.
Mummenhoff 1984: Karl Eugen Mummenhoff, Beiträge zum architektonischen Œuvre des Lambert Friedrich Corfey, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 62, 1984, S. 93-128.
Paulus 2011: Simon Paulus, Deutsche Architektenreisen — zwischen Renaissance und Moderne, Petersberg: Michael Imhof, 2011.
Paulus 2014: Simon Paulus, „Ein- und andere Örther“. Zur Reflexion des „Donauraums“ als Architekturlandschaft im Reisebericht der Frühen Neuzeit, in: Barocke Kunst und Kultur im Donauraum. Beiträge zum Internationalen Wissenschaftskongress 9.-13. April 2013 in Passau und Linz, hg. v. Karl Möseneder, Michael Thimann u. Adolf Hofstetter, Redaktion Ludger Drost, 2 Bde., Petersberg: Michael Imhof, 2014, Bd. I, S. 100-112.
Rensing 1936: Theodor Rensing, Lambert Friedrich von Corfey, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 21, 1936, S. 234-245.
Smets 1998: Josef Smets, Quatre voyageurs allemands à Nîmes, XVIIe-XIXe siècles, in: Annales du Midi 110, Jan.-März 1998, H. 221, S. 71-87.
Smets 2000: Josef Smets, La Provence dans les récits de deux voyageurs allemands, XVIIe-XIXe siècles, in: Provence historique 50, 2000, H. 199, S. 35-55.
Ziegler 2010: Hendrik Ziegler, Der Sonnenkönig und seine Feinde. Die Bildpropaganda Ludwigs XIV. in der Kritik. Mit einem Vorwort von Martin Warnke und einer französischen Zusammenfassung, Petersberg: Michael Imhof, 2010 (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 79).
Ziegler 2013: Hendrik Ziegler, Louis XIV et ses ennemis. Image, propagande et contestation. Vorwort v. Andreas Beyer u. Béatrix Saule, Einleitung v. Martin Warnke, übersetzt v. Aude Virey-Wallon, Paris, Saint-Denis: Presses Universitaires de Vincennes, 2013.
Bearbeiter*innen
Einleitungstext: Hendrik Ziegler, kontrolliert v. Florian Dölle, Marion Müller u. Gerd Dethlefs; Übersetzung ins Französische: Jean-Léon Muller.
Transkription der Edition (Corfey): Florian Dölle u. Marion Müller, basierend auf der gedruckten Textedition von Helmut Lahrkamp (Corfey 1977), die mit dem Manuskript abgeglichen und vor allem um die zahlreichen lateinischen Inschriften und die Marginalien ergänzt wurde; Überprüfung der lateinischen und altgriechischen Inschriften: Angelika Fricke.
Annotation der Edition (Corfey): Hendrik Ziegler, unter Verwendung von Hinweisen v. Helmut Lahrkamp u. Nicole Taubes.
Registererstellung in Deutsch und Französisch: Bastien Coulon, Florian Dölle, Angela Göbel, Anna Hartmann, Marion Müller, Alexandra Pioch u. Hendrik Ziegler; kontrolliert u. ergänzt durch Jean-Léon Muller u. Marie-Paule Rochelois.
Übersetzung der annotierten Transkription ins Französische: Nicole Taubes, kontrolliert v. Hendrik Ziegler, Alexandra Pioch u. Florian Dölle.
Kodierung der deutschen und französischen Edition (Corfey): Kodierungen in beiden Sprachen: Florian Dölle, kontrolliert v. Axelle Janiak u. Mathieu Duboc.
Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck
In Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebecks Abhandlung findet sich derselbe etwas rechthaberische Ton und derselbe didaktische Impetus wie in Leonhard Christoph Sturms Architectonischen Reise-Anmerckungen. Tatsächlich steht Knesebecks Kurtze Beschreibung einer Tour durch Holland nach Franckreich, von Braunschweig in direkter Verbindung zu Sturms 1719 in erster Auflage erschienenem Buch: Höchstwahrscheinlich stellt das Manuskript Knesebecks eine Abschrift der kompilierten Reisenotizen Sturms dar, die dieser nach seinen in den Jahren 1696, 1699 und 1712 unternommenen Reisen in die Niederlande, Flandern und nach Frankreich zusammengestellt und dann zur Abfassung seines Druckwerks genutzt hat. Die originalen Aufzeichnungen Sturms sind aber heute verloren, so dass wir in der Abschrift Knesebecks die einzige bisher gefundene Urschrift der Reisenotizen Sturms besitzen. Über die Entstehungsumstände dieser Abschrift kann man nur spekulieren: Sturm wandte sich um 1713 wieder verstärkt publizistischen Vorhaben zu und könnte dabei Knesebeck gebeten haben, seine Reisenotizen und -zeichnungen ins Reine zu übertragen. Doch hat Knesebeck zwischen 1711 und 1713 nachweislich ebenfalls eine, wenn auch kaum dokumentierte Reise nach Frankreich unternommen. In deren Vorbereitung könnte er Sturm gebeten haben, die Aufzeichnungen abschreiben zu dürfen. Da das Manuskript von Knesebeck in zahlreichen Punkten von Sturms gedruckter Buchfassung abweicht, ergibt sich für die Forschung die einzigartige Gelegenheit, die redaktionellen Prozesse nachzuverfolgen, die aus einer Reisebeschreibung ein didaktisch ausgerichtetes und dennoch literarisch ansprechend verfasstes Lehrbuch machten: Einzelne kunstpolitisch provokante Vorschläge, wie etwa zur Verbesserung der Versailler Spiegelgalerie, wurden in der Buchfassung weggelassen, sind aber im Knesebeckschen Manuskript noch zu finden.
Zur Person
Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck stammte aus einem im östlichen Niedersachsen und in der Altmark alteingesessenen Adelsgeschlecht. Mehrere Familienmitglieder stiegen zu bedeutenden militärischen, administrativen oder diplomatischen Ämtern vornehmlich in kurbrandenburgischen Diensten auf, etwa Thomas von dem Knesebeck (1565-1625) und dessen Sohn Hempo (1595-1656) (s. Bittner/Groß/Latzke 1936, S. 22 u. 42). Wie Christian Friedrich Gottlieb innerhalb des Familienverbunds zu situieren ist, konnte bisher nicht geklärt werden.
Die wenigen bisher aus unterschiedlichen Schriftquellen bekannten Lebensdaten und -stationen Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebecks seien hier zusammengestellt (s. die Einzelnachweise in Hinterkeuser 2006, 2009 u. 2020). Sein Geburtsjahr und sein Geburtsort sind nicht bekannt; gesichert ist allein, dass er im September 1720 in Schwerin verstarb. Seine Mutter Anna Sophie von dem Knesebeck, deren Mädchenname nicht bekannt ist, wurde 1648 geboren und überlebte ihren Sohn um mindestens 10 Jahre. Da Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck spätestens seit 1703 in militärischen Diensten des Herzogtums Mecklenburg-Schwerin nachweisbar ist, wahrscheinlich im Rang eines Fähnrichs, kann man annehmen, dass er um 1685 zur Welt gekommen ist. In Schwerin wurde er dem Ingenieur-Kapitän und Architekten Jakob Reutz zugeordnet, der ihn in die Baukunde einführen sollte, dies aber wohl nur unzureichend tat, so dass sich Knesebeck auf das Eigenstudium durch die Lektüre von Architekturtraktaten verlegte, darunter auch die Schriften des damals schon bekannten Architekten und Architekturtheoretikers Leonhard Christoph Sturm. Knesebecks Situation verbesserte sich allerdings, als Ende 1706 eine Neustrukturierung des herzoglichen Bauwesens vorgenommen wurde und unter Leitung von Friedrich Wilhelm von Hammerstein eine neue Pionierkompanie entstand. Unter Hammerstein stieg Knesebeck 1706 zum Baukondukteur (Bauleiter) und vor Ende 1710 zum Ersten Baukondukteur auf. Neben Bauaufsichten vornehmlich mit dem Abzeichnen von Bauplänen und dem Bau von Modellen beschäftigt, erhielt er Einsicht in alle laufenden Projekte im Herzogtum, vereinzelt auch darüber hinaus. Dazu trugen einige Reisen bei: 1703 nach Dänemark, 1706 und 1708 nach Berlin und im selben Jahr in die Niederlande. Zwischen 1711 und 1713 folgte eine selbstfinanzierte Studienreise nach Frankreich über die Niederlande und Flandern. Dabei blieb ihm genügend Zeit, für seinen eigenen Bedarf eine umfassend kommentierte Sammlung von Abschriften von Plänen anzulegen, die ihm bei der Arbeit vorgelegt wurden. Diese 2005 im Kunsthandel wieder aufgetauchte Sammlung gehört heute zu den wichtigsten Quellen des Baugeschehens in Mecklenburg-Schwerin (s. dazu die Rubrik „Zur Quelle“).
Im Herbst 1710 verstarb Jakob Reutz, und kurz darauf verließ Hammerstein Schwerin, um nach Brabant zu gehen. Die von Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck gehegte Hoffnung, aufgrund dieses Personalnotstands in eine leitende Position innerhalb der Baubehörde des Herzogtums aufzurücken, erfüllt sich jedoch nicht. Dabei hatte ihn Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Schwerin (reg. 1692-1713) sogar aufgefordert, zu Hammersteins Plänen eines umfassenden Umbaus des Schlosses in Neustadt-Glewe einen Gegenentwurf einzureichen. Schließlich zog es der Herzog allerdings vor, Leonhard Christoph Sturm zum Frühjahr 1711 nach Schwerin zu berufen und diesem die Leitung über alle fürstlichen Bauprojekte anzuvertrauen. Knesebeck fügte sich in die neuen Verhältnisse und ordnete sich seinem neuen Vorgesetzten unter, den er im Übrigen seit seinen ersten Ausbildungsjahren schätzte und verehrte. Unter Sturms Leitung wurden er zu allen maßgeblichen Bauvorhaben im Herzogtum hinzugezogen. Allerdings verschlechterte sich die finanzielle Situation des Herzogtums drastisch, als nach dem Tod von Friedrich Wilhelm 1713 dessen jüngerer Bruder Carl Leopold die Regierung übernahm: Als Verbündeter Schwedens zog er sein Land in den Großen Nordischen Krieg hinein; aufgrund verschiedener Rechtsbrüche im Zuge seiner drakonischen Steuerpolitik wurde 1717 sogar von Kaiser Karl VI. die Reichsacht über das Herzogtum verhängt (s. Drinkuth/Meiner/Puntigam 2018, S. 10). Die meisten Vorhaben blieben daher im Entwurfsstadium stecken. Doch war es Knesebeck zumindest vergönnt, sich bei der Planung und Leitung mehrerer Bauvorhaben einzubringen:
- So wirkte er bis 1713 an der Vollendung des Innenausbaus der Schweriner Schelfkirche St. Nikolai mit.
- Bis 1717 beaufsichtigte er den Weiterbau des Schlosses in Neustadt-Glewe.
- 1713 entwickelte er Pläne für eine Modernisierung der Stadtbefestigung von Rostock.
- Als Sturm 1714 mit dem Umbau dreier älterer Gebäude in Rostock beauftragt wurde, die zu einem herzoglichen Palais zusammengefasst werden sollten, war Knesebeck hieran ebenfalls beteiligt.
- 1716/17 sehen wir Knesebeck mit der Erarbeitung von Plänen für die Instandsetzung der Pfarrkirche in Boizenburg betraut, die 1709 durch Brand zerstört worden war.
- Für das Jahr 1718 ist seine Leitung beim Bau des Rostocker Marstalls dokumentiert.
- Ebenfalls 1718 legte er Pläne für den Wiederaufbau des Jagdhauses zum Gelbensande in der Nähe von Rostock vor, die allerdings nicht umgesetzt wurden.
Eine gewisse Genugtuung muss es für Knesebeck bedeutet haben, dass er, wohl nach 1716, in den Rang eines Ingenieur-Kapitäns befördert wurde, bevor er unerwartet früh im September 1720 in Schwerin verstarb.
Zur Quelle
Das Manuskript mit dem Titel Kurtze Beschreibung einer Tour durch Holland nach Frankreich, von Braunschweig wird in der Universitätsbibliothek Rostock unter der Signatur „Mss. var. 13“ verwahrt. Es ist von der Universitätsbibliothek Rostock digitalisiert worden (zu konsultieren auf RosDok). Zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen das Dokument in die Sammlung kam, ist nicht bekannt. Die 86 Blatt umfassende, mit zahlreichen Zeichnungen durchsetzte Schrift ist in einen Einband aus Halbpergament und Buntpapierbezug eingefasst, der aus dem 18. Jahrhundert datiert. Die Blattzählung ist in Bleistift von moderner Hand jeweils unten mittig auf der Vorderseite eines jeden Blattes eingetragen; nur die Seiten 2, 3 und 4 tragen zusätzlich eine historische Paginierung oben rechts oder links außerhalb des umrandeten Schriftfeldes. Die 14 Bildtafeln am Ende des Dokuments sind zusätzlich jeweils oben rechts in Bleistift entsprechend durchnummeriert. Die durchschnittliche Größe der Blätter beträgt 23 x 14 cm (Ausnahmen bilden die drei ausfaltbaren Illustrationen Bl. 82: 23 x 65 cm, Bl. 83: 32 x 28,5 cm u. Bl. 84: 33 x 27 cm). Der ordentlich geschriebene, meist gut lesbare Text ist in Tinte auf Papier in deutscher Kurrentschrift geschrieben; fremdsprachige Ausdrücke werden allerdings in lateinischen Buchstaben wiedergegeben. Akkurat ausgeführte Federzeichnungen, die meist laviert sind, begleiten den Text. Häufig sind auf den Zeichnungen noch in Bleistift angelegte Hilfslinien, Unterzeichnungen oder erste, mit freier Hand angelegte Skizzen zu erkennen, die die Ausführung in Feder vorbereiteten, aber stehengelassen wurden (etwa fol. 25v, 32r oder 42v; bei fol. 41r scheint es sich bei dem Detail oben links sogar um einen verworfenen ersten Entwurf zu handeln). An einigen Stellen sind auch Textzusätze in Bleistift hinzugefügt, die meistens Hinweise für die endgültige Anlage der Zeichnungen enthalten (etwa fol. 21r, 28v, 41r; bei fol. 70v aber auch eine Ergänzung im Text). Text- und Bildgestaltung einer jeden Seite sind eng aufeinander abgestimmt: Nur auf einer Seite ist der freigehaltene Platz für eine Zeichnung nicht ausgefüllt worden (fol. 46r).
Dem Manuskript ist kein eigens gestaltetes Titelblatt vorangestellt, das einen Autor nennen würde. Vielmehr setzt der Text unmittelbar unterhalb der Titelzeile ein (fol. 2r). Zwar ist der Text in der Ich-Form abgefasst, doch offenbart sich der Autor darin nirgends namentlich. Die Handschrift kann allerdings eindeutig als diejenige des Ingenieur-Kapitäns Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck identifiziert werden. Das ergibt der Vergleich mit einer von diesem signierten Handschrift: Das Staatliche Museum Schwerin konnte 2006 aus dem Kunsthandel ein umfangreiches Manuskript in zwei Bänden erwerben. Der erste Teil trägt den Titel Kurtze Remarquen der Oeconomischen alß auch Prächtigen Baukunst. Wie solche Von Anno 1703. in folgenden Jahren bey hiesigen Bau- und Landwesen in allen vorgefallenen Gelegen–heiten observiret, und zusammen getragen biß 1710; der zweite Band ist betitelt: Continuation Der Kurtzen Remarquen der Oeconomischen als auch Prächtigen Baukunst. Von 1711 bis 1716 (Staatliche Schlösser, Gärten und Kunstsammlungen Mecklenburg-Vorpommern, Staatliches Museum Schwerin, Ms. Knesebeck 1703-1716, I u. II, B 293). Auf die Rückseite des Titelblatts des ersten Bands fügte Knesebeck nachträglich (wohl 1710) einen von ihm signierten „Vorbericht“ ein, der eine kurze Beschreibung seines bisherigen beruflichen Werdegangs enthält (fol. 1v). Dieser ist grundlegend für die Rekonstruktion der Biografie des Militäringenieurs bis zum Jahr 1716, wie sie oben angeführt wurde. Durch den Vergleich mit diesem Manuskriptfund lässt sich die Zuschreibung der Universitätsbibliothek Rostock bestätigen, dass die Kurtze Beschreibung einer Tour durch Holland nach Frankreich, von Braunschweig von der Hand Knesebecks stammt. Zudem können zwei weitere in der Universitätsbibliothek Rostock verwahrte Handschriften — ein Traktat zur Civil-Baukunst und ein Handbuch der Zimmermannstechnik Vollständiges und In Form einer Wissenschafft gebrachtes Zimmer-Handwerck — Knesebeck zugeordnet werden (Universitätsbibliothek Rostock, Mss. math. phys. 32 u. Mss. math. phys. 33; s. Hinterkeuser 2020, S. 240).
Jedoch handelt es sich bei besagter und hier edierter Reisebeschreibung nicht um eine originäre, eigenständige Schrift von Knesebeck, sondern wahrscheinlich um eine Reinschrift älterer Reisenotizen von Leonhard Christoph Sturm (s. den Einleitungstext zur hiesigen Online-Edition der Architectonischen Reise-Anmerckungen Sturms). Dieser hatte sich im Frühjahr 1711 in Schwerin niedergelassen, nachdem ihn Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Schwerin bereits im November des Vorjahrs als Ober-Baudirektor berufen hatte (s. Franke 2020, S. 227 u. Anm. 9). Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck unterstand somit als oberster Bauleiter („Premier Conducteur“) Leonhard Christoph Sturm. Der von der Universität Frankfurt an der Oder nach Schwerin übergewechselte fränkische Mathematiker, Architekturtheoretiker und Architekt hatte 1697 und 1699 mehrwöchige Reisen in die Vereinigten Provinzen der Niederlande, die Spanischen Niederlande und nach Frankreich unternommen, woran sich 1712 nochmals eine einmonatige Studienreise in die Niederlande anschloss. Diese Reiseeindrücke sollten schließlich noch im Todesjahr Sturms 1719 in Buchform unter dem Titel Leonhard Christoph Sturms Durch einen grossen Theil von Teutschland und den Niederlanden biß nach Pariß gemachete Architectonische Reise-Anmerckungen [...] im Druck erscheinen. Zwischen der Buchfassung und dem hier vorgestellten Manuskript Kurtze Beschreibung einer Tour durch Holland nach Frankreich, von Braunschweig bestehen erstaunliche Übereinstimmungen, sowohl was zahlreiche Textpassagen als auch die beigefügten Abbildungen betrifft.
Bezeichnenderweise setzen die Reiseschilderungen — wie der Titel des Manuskripts schon ausweist — in Braunschweig ein und nicht in Schwerin. Braunschweig liegt unweit von Wolfenbüttel; dort hatte Leonhard Christoph Sturm zwischen 1694 und 1702 an der Ritterakademie gelehrt, bevor er an die Universität in Frankfurt an der Oder überwechselte. Die beschriebene Reise führt zunächst in die Vereinigten Provinzen der Niederlande, unter anderem nach Deventer, Het Loo, Amsterdam, Den Haag und Rotterdam, bis schließlich in Lille französischer Boden erreicht wird. Der Hauptteil der Beschreibung ist Paris und Umgebung gewidmet, ehe die Rückreise über die Spanischen Niederlande, mit Brüssel und Antwerpen als Hauptstationen, geschildert wird (s. zum Reiseverlauf in Knesebecks Manuskript die interaktive Europakarte). Durch mehrere Hinweise im Text wird deutlich, dass die geschilderten Eindrücke mehrheitlich auf eine Reise zurückgehen, die kurz vor der Jahrhundertwende unternommen worden sein muss:
- So endet eine vom Autor angefertigte Auflistung aller seit 1630 beinah jährlich der Kathedrale Notre-Dame von Paris durch die Confrérie Sainte-Anne — einer der vier Goldschmiedebruderschaften der Hauptstadt — gestifteten religiösen Gemälde (den sogenannten „May“) mit der Nennung der Schenkung von 1699 (fol. 43v-44v), obwohl diese Schenkungen bis 1708 fortgeführt wurden.
- Bei der Erwähnung der Fassaden, die nach dem verheerenden Bombardement von Brüssel 1695 um die Grande Place neu aufgebaut wurden, löst der Autor das Chronogramm, das einer der Fassadeninschriften eingeschrieben ist, mit 1702 auf. Dabei äußert er die Vermutung, dass damit das Datum angezeigt werden solle, zu dem man hoffe, dass die neuen Häuser fertig würden. Der Autor wird also vor diesem Datum in Brüssel gewesen sein (fol. 66v).
- Schließlich sind die beiden großformatigen Pläne zu Versailles und Marly beide auf September 1699 datiert (fol. 83r u. 84r).
Guido Hinterkeuser brachte erstmals die Kurtze Beschreibung einer Tour durch Holland nach Frankreich, von Braunschweig in den Forschungsdiskurs ein (s. Hinterkeuser 2009, S. 132, Anm. 3). Als er das Manuskript auf einer Arbeitstagung Anfang Januar 2015 in Versailles vorstellte, wies Florian Dölle, Mitarbeiter im hiesigen Projekt, auf die enge Verbindung zwischen dieser Schrift und der Buchpublikation von Sturm hin. Daraufhin wurden in der Gruppe diverse Vermutungen geäußert: Hatte Knesebeck Sturm bereits bei dessen Reise nach Frankreich 1699 begleitet und für diesen die Aufzeichnungen vorgenommen? Oder war Knesebeck selbstständig nach Frankreich gereist und hatte darüber Aufzeichnungen angefertigt, die sich Sturm später aneignete und unter seinem Namen publizierte? Solche Spekulationen wurden allerdings bald verworfen (s. dazu auch Hinterkeuser 2020, S. 256). Inzwischen haben sich die folgenden zwei Hypothesen zur Erklärung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen beiden Schriften als plausibel herausgestellt:
-
Nachweislich hat Knesebeck selbst eine Reise nach Frankreich über die Niederlande und Flandern unternommen. Das konnte Hinterkeuser aus drei Bittgesuchen in Briefform erschließen, die Knesebeck bezüglich dieser Reise an seinen Herrn, Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Schwerin, gerichtet hat. Leider sind die heute im Landeshauptarchiv Schwerin verwahrten Briefe nicht datiert, aber sie müssen zwischen der Ankunft Sturms im Frühjahr 1711 und dem Tod des Herzogs Ende Juli 1713 geschrieben worden sein (s. Hinterkeuser 2020, S. 254, Anm. 110 mit Verweis auf Anm. 10). Hinterkeuser stellt die These auf, dass sich Knesebeck von seinem Vorgesetzten Leonhard Christoph Sturm dessen bislang unpublizierte Aufzeichnungen zur Vorbereitung seiner eigenen Reise nach Frankreich erbeten habe, um sich durch die Abschrift mit den zu sehenden Bauten und Kunstwerken vertraut zu machen. (s. Hinterkeuser 2020, S. 256). Das Abschreiben aus Büchern und Manuskripten war damals durchaus gängige Ausbildungspraxis.
Allerdings — so muss einschränkend angemerkt werden — tobte damals noch der seit 1701 ausgetragene Spanische Erbfolgekrieg in aller Heftigkeit: bis 1712 auch an der Nordgrenze Frankreichs und bis Sommer 1713 im Elsass und den südwestdeutschen Reichgebieten. Erst im November 1713 wurden in Rastatt direkte Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und dem Kaiser und seinen verbliebenen Verbündeten aufgenommen. Die Studienreise wird unter diesen misslichen Umständen nicht lang gewesen sein und wahrscheinlich über die Wintermonate 1711/12 oder 1712/13 stattgefunden haben, als die Armeen im Winterlager lagen. Inwieweit überhaupt ein ausländischer Militäringenieur und zeichnender Architekt in diesen Kriegszeiten nach Frankreich eingelassen und dort geduldet worden ist, sei dahingestellt. Merkwürdig ist zudem, dass Knesebeck zwar seine früheren Reisen — 1703 nach Dänemark, 1706 und 1708 nach Berlin und im selben Jahr auch in die Niederlande — ausführlich in seinen oben genannten Kurtze Remarquen der Oeconomischen alß auch Prächtigen Baukunst. [...] beschreibt, im zweiten Teil derselben Schrift, der Continuation Der Kurtzen Remarquen der Oeconomischen als auch Prächtigen Baukunst. Von 1711 bis 1716, aber die Studienreise nach Frankreich mit keinem Wort erwähnt (s. Hinterkeuser 2020, S. 242). Dass Knesebeck das Manuskript tatsächlich als Vademekum bei seiner Reise mitgeführt hat, ist unwahrscheinlich, denn das Dokument trägt kaum Gebrauchsspuren. Auch hätte Knesebeck höchstwahrscheinlich Berichtigungen und Anmerkungen in das Manuskript eingetragen, da es veraltete Bau- und Ausstattungszustände festhielt.
-
Leonhard Christoph Sturm könnte aber auch — so die von Dölle und mir vorgebrachte Hypothese — Knesebeck als seinen Mitarbeiter, der eine ähnlich eigenständisch-kritische Beurteilungsgabe wie er selbst besaß und ebenfalls ein begabter Zeichner war, gebeten haben, seine ehemaligen Reiseeindrücke ins Reine zu schreiben. Dabei bat er ihn, vereinzelt auch Beobachtungen von seinen anderen Reisen in die Niederlande zu integrieren und vor allem die diversen auf diesen Reisen angefertigten Zeichnungen bei den entsprechenden Stellen im Text einzufügen. Nach dem Tod von Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Schwerin Ende Juli 1713 hatte sein jüngerer Bruder Carl Leopold dessen Nachfolge angetreten. Er verwickelte Mecklenburg-Schwerin als Verbündeten Schwedens immer weiter in den Großen Nordischen Krieg, wodurch jede Bautätigkeit im Herzogtum zum Erliegen kam. Sturm verlegte sich in dieser Situation verstärkt auf seine publizistischen Unternehmungen. Mit dem Frieden von Baden, der Anfang September 1714 geschlossen wurde, fand zumindest der Spanische Erbfolgekrieg sein Ende, wodurch wieder mit einem verstärkt einsetzenden Reiseaufkommen nach Westen in Richtung Frankreich gerechnet werden konnte. Das machte die Publikation eines didaktisch angelegten Architekturlehrbuchs zur niederländisch-flandrischen und vor allem französischen Baukunst zu einem auch in ökonomischer Hinsicht wieder lukrativen Unterfangen. Es erscheint plausibel, dass Sturm zunächst Knesebeck bat, jene uns als Kurtze Beschreibung einer Tour durch Holland nach Frankreich, von Braunschweig vorliegende Zusammenstellung aus seinen Texten und diversen Zeichnungen zu kompilieren. Dabei könnten auch Beobachtungen und Materialien, die Sturm auf seinen beiden anderen Reisen in die Niederlande 1697 und 1712 gesammelt hatte, etwa zu Hebemechanismen und diversen Mühlen, mit aufgenommen worden sein (fol. 9r u. v). Anschließend überarbeitete Sturm diese uns im Knesebeckschen Manuskript überlieferte Urfassung: Zum einen unterteilte er den Stoff in „Lektionen“, die er als Briefe an einen auf Reisen befindlichen Präzeptor literarisch verbrämte; zum anderen fügte er ausgiebige Paraphrasen und Zitate aus der äußert erfolgreichen Description nouvelle de la ville de Paris von Germain Brice bei, um sich meist kritisch von den Einschätzungen von Brice zu distanzieren (s. dazu den Einleitungstext zum Text von Sturm in hiesiger Online-Edition). Im Zuge dieser redaktionellen Arbeit nahm Sturm auch eine Auswahl vor, so dass manche Passagen und Zeichnungen, die sich im Knesebeckschen Manuskript finden, nicht in die Buchfassung übernommen wurden; anderweitig angefertigte Zeichnungen wurden hingegen hinzugenommen ebenso wie Beobachtungen zu einzelnen Kunstwerken und Schilderungen der Umstände der Reise. Zudem wurden zahlreiche nicht korrekt geschriebene Künstlernamen und Werktitel verbessert. Als schließlich Sturms Augsburger Verleger Jeremias Wolff an die Drucklegung ging, entschied er sich für eine Trennung zwischen den Bildern und dem Textteil: Die Illustrationen wurden nun dem Text sowohl voran- als auch nachgestellt, also die ursprünglich vorgesehene enge Verschränkung beider — wie sie uns das Knesebecksche Manuskript überliefert — aufgegeben. Ergänzend zu den Zeichnungen aus dem Knesebeckschen Manuskript treten 50 Blatt mit aufgeklebten Zeichnungen, die als Vorlagen für die in den Architectonischen Reise-Anmerckungen publizierten Kupferstiche gedient haben. Sie gehören zu einem Sammlungskonvolut von drei Foliobänden, die in der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg unter der Signatur 2° Hs. 94142 verwahrt werden (s. Isphording 2014, Nr. 357, S. 218f.); die hier interessierenden Zeichnungen befinden sich im Band II (Teil f), S. 78-127. Wie sich diese Vorzeichnungen zu den im Manuskript von Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck überlieferten Darstellungen und zu den schließlich als Kupferstiche publizierten Abbildungen des Buches verhalten, ist eine komplexe Frage, die hier nicht abschließend beantwortet werden kann. Aber es gibt Kupferstiche in den Architectonischen Reise-Anmerckungen, deren Vorlagen nur im Knesebeckschen Manuskript zu finden sind und nicht im Konvolut des Germanischen Nationalmuseums (etwa die Ansicht des Hochaltars von Val-de-Grâce, fol. 41r). Manchmal fand eine spiegelverkehrte Übertragung einzelner Zeichnungen auf die Kupferplatten statt, häufig aber auch nicht, ohne dass ein einheitliches Vorgehen erkennbar wäre.
Beide Hypothesen zur Entstehung des hier interessierenden Manuskripts von der Hand Knesebecks nach den Reiseaufzeichnungen Sturms schließen sich nicht gegenseitig aus: Die Abschrift könnte sowohl in Vorbereitung einer eigenen kurzen Studienreise Knesebecks erfolgt sein als auch (zugleich) zur Vorbereitung einer bereits geplanten Publikation Sturms gedient haben. Der Textteil von Knesebecks Abschrift endet zwar mit folgendem Passus (fol. 72v): „Und hiemit beschließe ich gegenwärtige Remarquen, die ich nicht verlange, daß sie weiter vertheilet, vielweniger Publique sollen gemachet werden, indem ich dieselben bloß zu meiner particulier notiz und erinnerung also zusammen getragen.“ Im Lichte der späteren Buchpublikation erweist sich diese Absichtserklärung jedoch als eine typische barocke Bescheidenheitsfloskel.
Forschungsstand
Der ältere, vormals bescheidene Forschungsstand zu dem mecklenburgischen Architekten, Bauleiter und Militäringenieur Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck wird in einem der Bände des Handbuchs von Hermann Heckmann zu den deutschen Baumeistern des Barock und Rokoko beiläufig erwähnt (s. Heckmann 2000, S. 13). In den letzten Jahren ist jedoch die Forschung zu Knesebeck durch verschiedene Umstände befördert worden, und allmählich erhält seine Biografie etwas Profil:
- Wie bereits erwähnt, hat das Staatliche Museum Schwerin 2006 ein im Jahr zuvor im Handel aufgetauchtes zweibändiges Manuskript von Knesebeck ankaufen können, in dem der schließlich zum Ingenieur-Kapitän beförderte Architekt umfassend zu Bauvorhaben im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin Stellung bezieht. Es trägt die Titel Kurtze Remarquen der Oeconomischen alß auch Prächtigen Baukunst. [...] und Continuation Der Kurtzen Remarquen [...] (SSGK, SMS, Ms. Knesebeck 1703-1716, I u. II, B 293). Der Berliner Kunsthistoriker Guido Hinterkeuser, der den Manuskriptfund für den Kunsthandel begutachtet und dessen Ankauf nach Schwerin vermittelt hat, konnte in der Folge verschiedentlich auf die Bedeutung dieser Schrift hinweisen und weitere Erkenntnisse zum Leben und zum zeichnerischen Werk Knesebecks zusammentragen (s. Hinterkeuser 2006, 2008, 2009 u. 2011).
- In den vergangenen Jahren hat die Universitätsbibliothek Rostock die drei in ihren Beständen befindlichen, obengenannten Manuskripte von der Hand Knesebecks digitalisiert. Dabei wurden dem Forschungsvorhaben ARCHITRAVE großzügigerweise die digitalen Faksimiles der mit Kurtze Beschreibung einer Tour durch Holland nach Frankreich, von Braunschweig betitelten Schrift zur Verfügung gestellt. Die Digitalisate in hoher Auflösung erleichterten eine diplomatische Transkription der genannten Schrift, für deren Anfertigung Guido Hinterkeuser gewonnen werden konnte. Er hatte erstmals in seiner Publikation von 2009 auf den in der UB Rostock liegenden Reisebericht Knesebecks hingewiesen (s. Hinterkeuser 2009, S. 132, Anm. 3). Der Mitarbeiter im Projekt Florian Dölle stellte schließlich heraus, dass es zahlreiche Übereinstimmungen zwischen Leonhard Christoph Sturms 1719 publizierten Architectonischen Reise-Anmerckungen und dem Manuskript von Knesebeck gibt. Nach einer genauen inhaltlichen Auseinandersetzung mit beiden Schriften über die letzten Jahre wurde allen Beteiligten klar, dass es sich bei dem Rostocker Manuskript mit aller Wahrscheinlichkeit um eine Abschrift eines nach Diktion und Argumentationsweise von Sturm angefertigten Reiseberichts handeln muss, der eine Vorstufe zu dessen späterer Buchfassung darstellt.
- In der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommerns wurden 2011 an die 600 Architekturpläne des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt, die aus der herzoglichen Plankammer stammten. Dieser Fund — als „Mecklenburgischer Planschatz“ betitelt — mündete in ein umfangreiches Sicherungs- und Erschließungsprojekt. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Bestands gipfelte 2018 in einer Ausstellung, der 2015 eine Tagung vorausgegangen war, deren Ergebnisse 2020 publiziert wurden (s. Drinkuth/Meiner/Puntigam 2018 u. Puntigam 2020). Obwohl sich im Planschatz nicht unmittelbar Zeichnungen fanden, die Knesebeck zuzuschreiben sind, konnte Guido Hinterkeuser im Tagungsband die Summe seiner bisherigen Erkenntnisse zu Knesebeck als Bauleiter und Ingenieur-Kapitän im Dienst des Herzogtums Mecklenburg-Schwerin vorstellen (s. Hinterkeuser 2020); ebenso trug Matthias Franke seine jüngsten Forschungen zum Wirken Leonhard Christoph Sturms als mecklenburgischer Baudirektor zwischen 1711 und 1719 zusammen (s. Franke 2020).
Zwei in ihren Urteilen über Architektur und in ihrer Entwurfspraxis sehr ähnliche Baumeister haben für acht Jahre zusammen in Schwerin zusammengearbeitet. Knesebecks Schriften und Abschriften stellen allerdings nicht nur eine wesentliche Quelle für ein besseres Verständnis der architektonischen Vorstellungen Sturms dar; vielmehr kommt ihnen auch Eigenwert als Dokumente architektonischer Aus- und Weiterbildung im Zeichen der Æmulatio zu — jenem kunstdidaktischen Paradigma, das auf eine permanente kreative Aneignung und Weiterentwicklung von Ideen und Konzepten abzielte, die abgewogen, angenommen, verworfen oder verbessert werden sollten, um darüber deren Qualität und Vorbildcharakter unter Beweis zu stellen. Knesebecks Kurtze Beschreibung einer Tour durch Holland nach Frankreich, von Braunschweig, die nach den Reisaufzeichnungen Sturms entstand, muss daher nicht nur als Vorstufe eines später im Druck erschienenen Lehrbuchs verstanden und noch genauer analysiert werden, sondern bereits in ihrer Eigenart als Abschrift als praktische Anwendung Sturmscher Didaktik erkannt und im Kontext der Architektenfortbildung um 1700 vertieft untersucht werden.
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Beschreibung der drei fürstlichen Appartements im Palais Royal, der Pariser Stadtresidenz des Bruders des Königs und seiner Familie. Im Appartement von Monsieur werden unter anderem die Kamine nach der neuesten „französischen Mode“ mit ihren großen Spiegeln, die oberhalb der vortretenden Marmoreinfassungen platziert sind, als erwähnenswert erachtet (fol. 24r) — ein Passus der in der später durch Leonhard Christoph Sturm herausgegebenen Buchfassung weggelassen ist.
Auf einer ganzen Seite wird die Eingangsfront des Hôtel particulier von Henry Pussort in der Rue Saint-Honoré festgehalten (fol. 26r); im beigefügten Text wird erläutert, dass der Autor seine Darstellung als komplementär zu bereits vorhandenen druckgrafischen Abbildungen erachtet (fol. 25v). Tatsächlich hatte Jean Marot lediglich die Gartenfront grafisch reproduziert (s. Deutsch 2015, S. 167-171 u. Abb. 27, S. 166). Gezielt wird also das gezeichnet, was grafisch noch nicht auf dem Markt zirkuliert. Das weist darauf hin, dass das Manuskript bereits in Hinblick auf eine spätere Umarbeitung zu einem kommerziell verwertbaren Buch angelegt war.
Bei seiner Abhandlung über das Konvent der Cölestiner (Couvent des Célestins) schildert der Autor, wie er aus der Not eine Tugend gemacht habe: Da er aus Zeitgründen nicht alle in der Chapelle d’Orléans aufgestellten Grabmonumente hätte abzeichnen können, habe er lediglich einen groben Lageplan angelegt und die Denkmäler dann aus dem Gedächtnis beschrieben (fol. 49r u. 49v). Der Autor beruft sich dabei auf das didaktische Konzept der Æmulatio, das im Übrigen noch bis weit in den Spätklassizismus bestimmend bleiben sollte: Nicht auf sklavisches Kopieren, sondern auf eine kreative Aneignung und Umarbeitung des Gesehenen käme es an, um am Gesehenen die eigene Erfindungsgabe zu schulen. In Sturms Buchfassung ist diese Passage weggelassen.
Am Grand Trianon — jenem einstöckigen Lustschloss, das 1687/88 in der Nähe des Versailler Residenzschlosses errichtet wurde und das ältere Trianon de Porcelaine ersetzte — wird die offene Loggia gelobt, die Nord- und Südtrakt miteinander verbindet (fol. 56r). Sturm wird dieses positive Urteil auch in sein Buch einfließen lassen (s. Sturm, S. 118), vielleicht aus politischen Rücksichten: Denn Ludwig XIV. hatte maßgeblich diesen zu beiden Seiten offenen Verbindungsgang gegenüber dem führenden Architekten Jules Hardouin-Mansart durchgesetzt (s. Gady 2010, S. 286-288).
Im Abschnitt zum Schloss von Versailles wird ein ausführlicher Vorschlag zur Verbesserung der Grande Galerie vorgestellt (fol. 53r u. 53v), mitsamt einer großen dazugehörigen ausfaltbaren — qualitätvollen — Zeichnung (fol. 81); diese Ausführungen werden nicht in die spätere Buchfassung Sturms übernommen. Bemerkenswert an der Argumentation ist zweierlei: Zwar wird richtig erkannt, dass gemäß der französischen Bautradition eine solche Galerie nicht in der Mitte des Corps de logis, sondern in einem der Seitenflügel hätte platziert werden müssen, nicht nur aus funktionalen Gründen, sondern auch, um deren beiderseitige Durchfensterung zu ermöglichen. Aber es wird verkannt, dass der leitende Architekt Jules Hardouin-Mansart gezwungen gewesen war, die Galerie an der Stelle einer älteren Terrasse zu errichten. Der geniale Einfall Hardouin-Mansarts, die einseitige Beleuchtung dadurch auszugleichen, dass gegenüber den Fenstern Spiegel in gleicher Größe angebracht wurden, wird nicht gewürdigt, vielmehr deren Ersetzung durch Fenster gefordert, die auf entsprechend dahinter befindliche Lichthöfe gehen.
Bibliografie
Bittner/Groß/Latzke 1936: Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), hg. v. Ludwig Bittner u. Lothar Groß unter Mitwirkung von Walther Latzke, Bd. I: 1648-1715, Zürich: Fretz & Wasmuth, 1936.
Drinkuth/Meiner/Puntigam 2018: Schatz entdeckt! Der verschollene Planschatz der Mecklenburger Herzöge, hg. v. Friederike Drinkuth, Jörg Meiner, Sigrid Puntigam, Ausstellungskatalog, Staatliche Schlösser, Gärten und Kunstsammlungen Mecklenburg-Vorpommern, Staatliches Museum Schwerin, 2018, Dresden: Sandstein, 2018.
Franke 2020: Matthias Franke, Leonhard Christoph Sturm als mecklenburgischer Baudirektor von 1711 bis 1719, in: Der Mecklenburgische Planschatz. Architekturzeichnungen des 18. Jahrhunderts aus der ehemaligen Sammlung der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin, hg. v. Sigrid Puntigam im Auftrag der Staatlichen Schlösser, Gärten und Kunstsammlungen Mecklenburg-Vorpommern und der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Günther Uecker, Essayband, Dresden: Sandstein, 2020, S. 227-237.
Gady 2010: Jules Hardouin-Mansart, hg. v. Alexandre Gady, mit einem Vorwort von Andreas Beyer, Photographien v. Georges Fessy, Paris: Maison des Sciences de l’Homme, 2010.
Heckmann 2000: Hermann Heckmann, Baumeister des Barock und Rokoko in Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Lübeck, Hamburg, Berlin: Verl. Bauwesen, 2000.
Hinterkeuser 2006: Guido Hinterkeuser, Berlin 1706 und 1708: die Stadt, ihr Schloss und der Münzturm in Beschreibungen und Zeichnungen des mecklenburgischen Architekten Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck, in: Stadtpläne von Berlin, bearb. v. Andreas Matschenz, Berlin: Mann, 2006 (= Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Bd. 10), S. 71-90.
Hinterkeuser 2008: Guido Hinterkeuser, Schloss Neustadt-Glewe, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 5: Barock und Rokoko, hg. v. Frank Büttner, Meinrad von Engelberg, Stephan Hoppe u. Eckhard Hollmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008, S. 437-438, Kat. 234.
Hinterkeuser 2009: Guido Hinterkeuser, Schlüter, Sturm und andere. Der Architekt als Idol, Lehrer, Vorgesetzter und Konkurrent in Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebecks Manuskript ›Kurze Remarquen der Oeconomischen alß auch Prächtigen Baukunst‹ (1703-1716), in: Architekt und/versus Baumeister. Die Frage nach dem Metier, Siebter Internationaler Barocksommerkurs, Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, Einsiedeln, 2006, hg. v. Tiziana De Filipo, Werner Oechslin u. Philip Tscholl, Zürich: gta 2009, S. 132-141.
Hinterkeuser 2011: Guido Hinterkeuser, Andreas Schlüter und das Ideal des barocken Lustgebäudes. Bauten und Entwürfe für Berlin, Freienwalde, Schwerin und Peterhof, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 64, 2010 (2011), S. 243-276.
Hinterkeuser 2020: Guido Hinterkeuser, Der Architekt Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck. Die Barockarchitektur im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin im frühen 18. Jahrhundert, in: Der Mecklenburgische Planschatz. Architekturzeichnungen des 18. Jahrhunderts aus der ehemaligen Sammlung der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin, hg. v. Sigrid Puntigam im Auftrag der Staatlichen Schlösser, Gärten und Kunstsammlungen Mecklenburg-Vorpommern und der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Günther Uecker, Essayband, Dresden: Sandstein, 2020, S. 239-257.
Puntigam 2020: Der Mecklenburgische Planschatz. Architekturzeichnungen des 18. Jahrhunderts aus der ehemaligen Sammlung der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin, hg. v. Sigrid Puntigam im Auftrag der Staatlichen Schlösser, Gärten und Kunstsammlungen Mecklenburg-Vorpommern und der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Günther Uecker, Essayband, Dresden: Sandstein, 2020.
Bearbeiter*innen
Einleitungstext: Hendrik Ziegler, kontrolliert v. Guido Hinterkeuser, Florian Dölle u. Marion Müller; Übersetzung ins Französische: Jean-Léon Muller.
Transkription der Edition (Knesebeck): Guido Hinterkeuser, kontrolliert v. Marion Müller u. Stefanie Funck.
Annotation der Edition (Knesebeck): Marion Müller, Hendrik Ziegler u. Isabelle Kalinowski.
Registererstellung in Deutsch und Französisch: Bastien Coulon, Florian Dölle, Angela Göbel, Anna Hartmann, Marion Müller, Alexandra Pioch u. Hendrik Ziegler; kontrolliert u. ergänzt durch Jean-Léon Muller u. Marie-Paule Rochelois.
Übersetzung der annotierten Transkription ins Französische: Isabelle Kalinowski, kontrolliert v. Marion Müller, Hendrik Ziegler, Alexandra Pioch u. Marie-Paule Rochelois.
Kodierung der deutschen und französischen Edition (Knesebeck): Marion Müller, kontrolliert von Chloé Menut, Axelle Janiak u. Mathieu Duboc.
Leonhard Christoph Sturm
Leonhard Christoph Sturms Publikation ist aufgrund der darin freimütig geäußerten, auffallend kritischen Haltung gegenüber der französischen Kunst und Architektur von besonderem Wert: Wie in einem Brennglas wird darin das im Hochbarock immer deutlicher hervortretende deutsch-französische Konkurrenzverhältnis sichtbar, das nicht nur auf politisch-militärischer, sondern gerade auch auf kultureller Ebene besteht. Das durchaus bewunderte Modell Frankreich wird einer systematischen Prüfung unterzogen und sogar mehrfach „korrigiert“. Der deutsche Architekturtheoretiker und strenge Pietist fällt dabei teils gnadenlose Urteile über seiner Meinung nach nicht gelungene Baugestaltungen: Er geißelt jede Abweichung von den von ihm als grundlegend erachteten mathematischen Prinzipien und Proportionsgesetzen der Architektur, da er deren Unumstößlichkeit aus der biblischen Offenbarung ableitet. Die Architectonischen Reise-Anmerckungen entpuppen sich somit als ein didaktisches Lehrbuch mit kulturpolitischer Wirkabsicht, das sich an angehende Architekten aus dem deutschen Sprachraum richtet. Keineswegs dürfen die Reise-Anmerckungen als eine bloße Bestandsaufnahme der französischen Architektur um 1700 missverstanden werden, wenn auch das Buch auf eigenständigen, authentischen Reiseeindrücken basiert. Das Reisejournal von Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck scheint eine Vorstufe zu der Veröffentlichung von Sturm zu sein (s. den dortigen Eintrag).
Zur Person
Leonhard Christoph Sturm wurde am 5. November 1669 in Altdorf bei Nürnberg als Sohn eines an der dortigen Universität lehrenden Mathematikprofessors und ehemaligen evangelischen Pfarrers geboren. Gestorben ist er kurz vor dem Erreichen seines 50. Geburtstags am 6. Juni 1719 in Blankenburg am Harz. Sturm gehörte zu den produktivsten Theoretikern der Architektur und des Festungsbaus seiner Zeit im deutschsprachigen Raum. Als Anhänger des deutschen Pietismus ist er aber auch mit zahlreichen theologischen Schriften hervorgetreten. Um die 130 Publikationen tragen seinen Namen (eine erste Übersicht bieten Zedler 1744 u. Humbert 1747; s. auch Schädlich 1990, S. 138f.). Als Architekt ist Sturm allerdings nur beschränkt praktisch tätig geworden (s. allg. zu Sturm: Gurlitt 1922; Küster 1942; Schädlich 1957; Schädlich 1990, Lorenz 1992; Lorenz 1995; Heckmann 2000, S. 31-49; Evers/Thoenes 2003, S. 550-559; Goudeau 2005, S. 441-460).
Nach seiner Gymnasialausbildung im Kloster Heilsbronn absolvierte Sturm in seiner Vaterstadt zwischen 1683 und 1688 ein Philosophiestudium. Im Jahr darauf wurde er Assistent an der Universität Jena, entschloss sich aber bald, nochmals seine Studien fortzusetzen: Zwischen 1690 und 1694 — unterbrochen durch einige innerdeutsche Reisen — widmete sich Sturm in Leipzig der Theologie, aber auch der Mathematik, bevor er 1694 einen Ruf als Professor der Mathematik an der Ritterakademie in Wolfenbüttel annahm, einer der Residenzen der Herzöge von Brauschweig-Wolfenbüttel. Die Jahre bis zur Berufung nach Wolfenbüttel sind in dreifacher Hinsicht richtungsweisend für Sturms gesamtes späteres architektonisches Denken und Schaffen geworden:
- Zum einen kam Sturm von Leipzig aus in engere Berührung mit dem Pietismus, von dessen Grundsätzen und Maximen er bereits in Altdorf durch Georg Paul Rötenbeck, einen Kollegen und Freund seines Vaters, gehörte hatte (s. Wotschke 1931, S. 106). Der Pietismus stellt eine Reformbewegung innerhalb der lutherisch-orthodoxen Kirche dar, die seit Mitte der 1670er Jahre vor allem durch die Schriften von Philipp Jakob Spener immer größeren Einfluss erhielt und in Halle mit dem Wirken von August Hermann Francke eines ihrer Zentren in Mitteldeutschland ausbilden konnte. Sturm besuchte Halle 1694 anlässlich der Eröffnung der dortigen Friedrichs-Universität; mit Francke sollte er allerdings erst später, ab 1701, persönlich in Kontakt treten (s. Wotschke 1931, S. 107). Eines der Kernanliegen des Pietismus war die Beförderung eines tätigen sozialfürsorglichen Wirkens der Gläubigen, unter gottgefälliger, also sparsamer und effizienter Verwendung vorhandener Mittel. Die später von Sturm in seinen architektonischen Schriften mit moralischer Strenge vorgebrachten Forderungen nach einer schlichten, funktionalen, jeden überflüssigen Zierrat vermeidenden Architektur für den deutschen Bürgerstand sind aus seiner geistigen Nähe zum Pietismus zu erklären (s. Bernet 2006a; Bernet 2006b; Franke 2009).
- Zum anderen machte Sturm in Leipzig Bekanntschaft mit dem Ratsherrn
Georg Bose. In dessen Besitz befand sich ein bisher nicht im Druck
erschienener umfangreicher Traktat zur Civilbaukunst, verfasst von
Nikolaus Goldmann (1611-65), einem Mathematikprofessor aus Leiden, bei
dem bereits Sturms Vater Vorlesungen gehört hatte (s. Semrau 1916, S.
350; Schädlich 1990, S. 92 u. 111f.). Bose stellte dem jungen Sturm
das Goldmann’sche Manuskript zur Verfügung mit der Bitte, es
herauszugeben. Sturm machte sich das Anliegen zu eigen und publizierte
1696 erstmals den Traktat von Nikolaus Goldmann unter dem Titel
Vollständige Anweisung zu der Civil Bau-Kunst, den er mit einem
ausführlichen Kommentar versah.
Bereits bei Goldmann findet sich die Auffassung, die Sturm in der Folge zu seinem Credo erhebt, dass die Architektur auf unwandelbaren mathematischen Prinzipien und Proportionsgesetzen beruhe, die letztlich aus der Heiligen Schrift abzuleiten seien, nämlich aus der Rekonstruktion des Salomonischen Tempels, wie sie die Vision des Propheten Ezechiel vom neuen Tempel zu Jerusalem vorgäbe (AT, Buch Ezechiel, 40,1-44,3). Solche Rekonstruktionsversuche zur Festschreibung göttlicher Proportionsgesetze hatte es bereits mehrere gegeben; der wohl berühmteste stammte aus dem 16. Jahrhundert von dem spanischen Jesuiten Juan Bautista Villalpando. Goldmann und nun auch Sturm traten dazu in Konkurrenz (s. Freigang 2004, S. 136). Darüber hinaus galten Goldmann und folglich auch Sturm die Säulenordnungen, wie sie vor allem Vitruv als führende antike Autorität beschrieben hatte, als die wichtigsten sowohl konstruktiven als auch ornamentalen Grundelemente, aus deren Proportionen die Maße eines jeden Baues abzuleiten seien. Dabei wurde das Modul — der halbe untere Säulendurchmesser — als Grundeinheit für die gesamte Planung bestimmend, was oft zu etwas trockenen, schematisierten und stark symmetrischen Entwürfen führte (s. Lorenz 1992, S. 86), wenn auch — wie Schädlich herausgearbeitet hat — Fensterachsen und Türöffnungen durchaus einen bestimmenden Einfluss auf die von Sturm entwickelten Grundrissgestaltungen behalten sollten (s. Schädlich 1957, 2. Teil, S. 228f.).
In der Folge sollte Sturm einen Großteil seines auf die Architektur bezogenen publizistischen Schaffens als Kommentierung der Goldmann’schen Schrift auffassen. Nach mehreren erweiterten Neuauflagen der Vollständigen Anweisung zu der Civil Bau-Kunst, die bis 1708 herauskamen, startete Sturm eine neue Initiative, indem er 1714 mittels eines Prodromus Architecturæ Goldmannianæ eine ganze Serie von Kommentaren ankündigte. Diese Serie, obwohl bei seinem Tod 1719 noch immer nicht abgeschlossen, wuchs auf 16 solcher ergänzenden Einzelabhandlungen an. Darunter befanden sich auch, als „VI. Theil“, die Architectonischen Reise-Anmerckungen. Sturms Augsburger Verleger Jeremias Wolff ließ posthum 1721 alle diese Kommentare zur Goldmann’schen Schrift in einem Band unter dem Titel Der [...] verneuerte Goldmann erscheinen (s. Semrau 1916, S. 350; Lorenz 1992, S. 87f.). Der Band erlebte 1765 nochmals eine Neuauflage. - Doch wird die Studienzeit in Leipzig für Leonhard Christoph Sturm auch zur Ausprägung seiner sowohl von distanzierter Bewunderung als auch skeptischer Ablehnung getragenen Haltung gegenüber aller fremden und vornehmlich französischen Kunst und Kultur beigetragen haben. In der ersten Leipziger Zeit und später in Halle hörte er bei dem Juristen und Philosophen Christian Thomasius, der im Frühjahr 1690 nach Halle wechselte (s. Wotschke 1931, S. 106; Ellwardt 2013, S. 652). Thomasius hatte 1687 mit seiner auf Deutsch (und nicht mehr auf Latein) gehaltenen Vorlesung Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? für Furore gesorgt (s. Thomasius 1994). Der im Discours mit intellektueller Bravour und mit Witz unternommene Versuch, nationale Stereotype als unhaltbare Simplifikationen und Verkürzungen zu entlarven — vor allem den, allein die französische Nation sei in der Lage, Schöngeister (bzw. „beaux esprits“) hervorzubringen — (s. Florack 2007), wird nicht ohne Wirkung auf Sturm geblieben sein: Wenn auch nicht mit derselben geistigen Wendigkeit und demselben Differenzierungsvermögen wie Thomasius ausgestattet, wird Sturm immer wieder die deutsche Baukunst gegen die französische auszuspielen suchen, um den Vorrang ersterer innerhalb der europäischen Architekturentwicklung seit der Antike nachzuweisen (s. Freigang 2004, S. 135).
Von 1694 bis 1702 blieb Leonhard Christoph Sturm an der Akademie in Wolfenbüttel, der Rudolph-Antoniana, als Professor der Mathematik und Architekturtheorie tätig. Diese 1687 gegründete Ritterakademie zur Ausbildung junger Herren gehobenen Standes war die beliebteste ihrer Art im Reich (s. Bender 2011, S. 221f.). Sturms Vorgänger an der Ritterakademie war Johann Balthasar Lauterbach gewesen, der in Personalunion auch das Amt des fürstlichen Landbaumeisters ausgeübt hatte. Sturms Hoffnung, Lauterbach — den er schätzte — auch in dieser Funktion im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel beerben zu können, zerschlug sich allerdings: Die Gesamtleitung des fürstlichen Bauamtes wurde dem Bauvogt Hermann Korb übertragen, der die Ausführung des Schlossbaus von Salzdahlum nach den Plänen Lauterbachs zu verantworten gehabt hatte. Daraus ergab sich ein gespanntes Verhältnis zwischen Sturm und Korb, dem Sturm jede fundierte Kenntnis der Architekturtheorie absprach (s. Rust 2007, S. 516; Paulus 2013, S. 154f.).
In die Wolfenbütteler Zeit fallen die ersten beiden längeren Auslandsreisen, die Leonhard Christoph Sturm unternehmen sollte: Mit Billigung seines Dienstherrn Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel reiste er 1697 für sechs Wochen in die Vereinigten Provinzen der Niederlande; 1699 folgte eine zehnwöchige Bildungsreise nach Paris, wobei der Herzog für An- und Abreise weitere 5 Wochen (über die Niederlande und Flandern) genehmigte (s. Küster 1942, S. 13; Schädlich 1990, S. 138; s. auch Zedler 1744, Sp. 1424; Humbert 1747, S. 62). Italien hat Sturm bewusst gemieden und für Frankreich optiert, als ihn der Herzog vor die Wahl zwischen beiden Reisezielen stellte (s. Küster 1942, S. 13; Lorenz 1995, S. 120). Anton Ulrich zog für seine eigenen Reisen dagegen Italien vor und stellte die italienische und niederländische Kunst über die Frankreichs (s. Dölle 2014, S. 94). Sturm sollte später aus seinen Reiseeindrücken — zu denen noch die einer zweiten Reise in die Niederlande 1712 kommen sollten (dazu weiter unten) — die 1719 publizierten Architectonischen Reise-Anmerckungen kompilieren. In der Wolfenbütteler Zeit entstand das erste nachweislich nach einem Entwurf Sturms umgesetzte Werk, der Hochaltar der Pfarrkirche St. Benedikti in Quedlinburg, der 1700 geweiht wurde (s. Schädlich 1990, S. 94). In Wolfenbüttel wurde Leonhard Christoph Sturm auch ein Sohn geboren: Georg Christoph Sturm (1698-1763), der es bis zum herzoglichen Hofbaumeister in Braunschweig bringen sollte (s. Osterhausen 1978).
1702 folgte Sturm einem Ruf auf die Professur für Mathematik an die Universität in Frankfurt a. d. Oder, womit er in brandenburgisch-preußische Dienste trat. Die über die kommenden Jahre gehegten Hoffnungen, eine Anstellung am Berliner Hof zu erhalten, erfüllten sich allerdings nicht. Dabei wurde Sturm 1704 zum Mitglied der Kurfürstlich-Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften ernannt (s. Zedler 1744, Sp. 1424; Schädlich 1990, S. 138). 1706 lieferte der Architekt zur Zweihundertjahrfeier der Universität, der Alma Mater Viadrina, unter anderem die Entwürfe für zwei ephemere Triumphbögen für den Einzug des Königs, die mit einer „preußischen Ordnung“ seiner Invention verziert waren — einer Abwandlung der von ihm schon früher entwickelten sechsten „deutschen“ Säulenordnung (s. Zubek 1971; Schädlich 1990, S. 98; Polleroß 1995, S. 65f.; Freigang 2004, S. 133; Rust 2007, S. 523-526). Im selben Jahr konnte Sturm sogar über den Berliner Schlossbaumeister Andreas Schlüter triumphieren, dem er als Mitglied in einer von König Friedrich I. in Preußen einberufenen Kommission Mängel bei der Fundamentierung des sogenannten Münzturms — einem Wasserturm des Berliner Schlossareals — nachwies (s. Humbert 1747, S. 68-70; Schädlich 1990, S. 103f.; Lorenz 1992, S. 91-95; Hinterkeuser 2003, S. 231-256). 1711 trat Sturm zum Calvinismus über, nicht nur aufgrund einer vorübergehenden Entfremdung von der lutherischen Orthodoxie, sondern vor allem aus Opportunismus, um sich dem reformierten Berliner Hof zu empfehlen. Doch wollte Friedrich I., obwohl er die Gelehrsamkeit Sturms offenbar schätzte, letztlich den streitbaren Professor nicht in Berlin haben (s. Franke 2009, S. 142f.)
Daher nahm Sturm 1711 das Angebot Herzog Friedrich Wilhelms von Mecklenburg-Schwerin (reg. 1692-1713) an und siedelte als Ober-Baudirektor nach Schwerin über (s. Heckmann 2000, S. 31-49; Franke 2020). Hier wurde er unter anderem bis 1713 mit der Vollendung der 1708 von dem örtlichen Ingenieur-Kapitän Jakob Reutz († 13. Oktober 1710) begonnenen und bereits im Rohbau fertiggestellten Schelfkirche betraut (s. Küster 1942, S. 150f. u. 155f.; Schädlich 1990, S. 109-111). Ein weiteres Bauvorhaben des Herzogshauses, das seit 1629 liegengeblieben war, konnte Sturm ebenfalls zwischen 1711 und 1717 weitgehend zu Ende führen: die dreiflügelige Schlossanlage in Neustadt-Glewe an der Elde (s. Schädlich 1990, S. 111; Lorenz 1995, S. 131-135; Hinterkeuser 2008; Hinterkeuser 2009, S. 139f.; Drinkuth/Meiner/Puntigam 2018, S. 66f.). Nachdem er im April 1712 zum Kammerrat ernannt worden war, unternahm er zusammen mit seinem Sohn Georg Christoph eine zweite Reise in die Niederlande, die vornehmlich dem Studium der dortigen Wassermühlen, Wehre und Dämme diente (s. Küster 1942, S. 33 u. 39; Dunk 2016. S. 192). Nach dem Tod des Herzogs 1713 gestaltete sich Sturms Stellung in Schwerin schwierig. Doch bestätigte ihn der neu regierende Herzog Carl Leopold von Mecklenburg-Schwerin, der jüngere Bruder von Friedrich Wilhelm, nach längeren Verhandlungen in seinen Ämtern als Ober-Baudirektor und Kammerat. Sturm lieferte daraufhin einen Plan für den Neubau der Stadtbefestigung von Rostock sowie einen Grundriss für einen umfangreichen Residenzbau in Schwerin (s. Drinkuth/Meiner/Puntigam 2018, S.45; Franke 2020, S. 229 u. Abb. 3 u. 4). Allerdings brachte der anhaltende Große Nordische Krieg, in den Mecklenburg-Schwerin an der Seite Schwedens verwickelt war, jede Bautätigkeit im Herzogtum zum Erliegen. Sturm verlegte sich daher verstärkt auf seine publizistische Tätigkeit (s. Humbert 1747, S. 74). Sein Augsburger Verleger Jeremias Wolff hatte seit 1711 damit begonnen, ein neuartiges architektonisches Musterbuch herauszugeben, den Fürstlichen Baumeister von Paul Decker (s. Decker 1711-1716). Der aus Nürnberg stammende Architekt und Entwerfer, der seit 1710 im Dienste des Markgrafen von Brandenburg-Bayreuth stand, legte den Fokus nicht mehr — wie noch Sturm — auf eine mathematische Fundierung und langatmige textliche Begründung seiner Entwürfe. Seine beiden Bände und der eine Anhangsband, die bis 1716 herauskamen, bestanden vielmehr fast ausschließlich aus optisch imposanten, in Kupfer gestochenen Schaubildern. Bei den Blättern handelt es sich größtenteils, wenn auch nicht ausschließlich, um erfundene, ideale Prachtbauten. Deren äußeres und teilweise auch inneres Aussehen wird durch topografische Gesamtansichten, meistens aus der Vogelperspektive, aber auch durch Auf- und Grundrisse vorgestellt; zudem werden einige der Innenräume und Prunkgemächer mit ihrer stets opulenten wandgebundenen Ausstattung den potentiellen Bauherren optisch attraktiv und beinah plastisch vor Augen gestellt. Decker, der viele Inventionen aus dem Berliner Baubüro von Andreas Schlüter in seine Entwürfe einfließen ließ, stand — wie Lorenz herausgearbeitet hat — für eine neue Architektengeneration, die Architektur nicht mehr nur als Wissenschaft, sondern als Kunst verstand und dazu auch neue Formen der „publizistischen Kommunikation“ über Architektur entwickelte (s. Lorenz 1995, S. 144). Deckers Bände stellten eine ernsthafte Konkurrenz für Sturm dar und seine 1714 mit dem Prodromus Architecturæ Goldmannianæ eingeleitete Publikationsoffensive muss als Antwort auf den Fürstlichen Baumeister Deckers gesehen werden (s. Lorenz 1995, S. 140-144; Freigang 2004, S. 141). Teil dieser Offensive waren auch die Architectonischen Reise-Anmerckungen.
Schließlich ernannte Ludwig Rudolf von Braunschweig-Wolfenbüttel (1671-1735) — der jüngste Sohn von Herzog Anton Ulrich und seit 1707 Fürst von Blankenburg — Leonhard Christoph Sturm zum Baudirektor in seiner Residenzstadt Blankenburg am Harz. Kurz vor Ende Mai 1719 wechselte Sturm dorthin, ohne das Wissen und die Zustimmung von Herzog Carl Leopold von Mecklenburg-Schwerin, mit dem er sich aufgrund seiner immer radikaleren pietistischen Ansichten entzweit hatte (s. Franke 2020, S. 236). Leonhard Christoph Sturm starb jedoch bereits am 6. Juni 1719 an einem Schlaganfall, noch bevor er in seiner neuen Funktion hätte wirksam werden konnte (s. Schädlich 1990, S. 138). Noch im selben Jahr, wenn auch posthum, publizierte Sturms Augsburger Verleger Jeremias Wolff die Architectonischen Reise-Anmerckungen, die 1760 noch eine zweite Auflage erleben sollten.
Exkurs: Drei Porträtstiche zu drei Karriereschritten
Sturm scheint darauf bedacht gewesen zu sein, über das Medium des Kupferstichs sein Bildnis zu verbreiten: Bei jeder neuen Station seines beruflichen Werdegangs ließ er einen neuen Stich oder eine neue Stichvariante anfertigen. Die Blätter zeigen in ihrer schwankenden Qualität nicht nur den jeweils wechselnden sozialen Status, sondern auch die sich ebenso verändernden finanziellen Möglichkeiten des Dargestellten an:
- Ein erster schlichter Porträtstich ist wahrscheinlich kurz nach Sturms Berufung 1694 nach Wolfenbüttel entstanden, als er an der dortigen Ritterakademie zum Mathematikprofessor ernannt worden war. Das Blatt, von unbekanntem Stecher gefertigt, zeigt den Architekten in einem ungerahmten Porträtmedaillon; dieses lehnt — nur leicht von einem Vorhang umhüllt — an einer fest gefügten Mauer und ist auf einem profilierten Sockel abgestellt, worauf „Leonhard Christoph Sturm“ geschrieben steht (u. a. in Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Inventar-Nr. A 21483; online verfügbar im Digitalen Portraitindex).
- Von ganz anderer Qualität und Komplexität ist der 1707 von Martin Bernigeroth gestochene und in Frankfurt a. d. Oder bei Jeremias Schrey d. Ä. und Johann Christoph Hartmann verlegte Porträtstich. Es weist den seit 1702 zum Professor der Mathematik an die Alma Mater Viadrina in Frankfurt a. d. Oder berufenen Gelehrten als streitbaren Geist aus: Ein geflügelter Genius oben rechts hat sich selbst mit der einen Hand die Maske vom Gesicht genommen, während er mit dem anderen Arm einen schweren Vorhang hinaufzieht, um das Porträtmedaillon Sturms freizulegen, an dessen Rand eine Sphinx wacht; auf dem Vorhang steht PATEAT CENSURAE, übersetzt „Er stehe der Kritik offen“. Die Inschrift am Sockel latinisiert nun den Namen und die Funktion des Dargestellten: „M[agister] Leonhardus Christophorus Sturm Mathes[eos] Prof[essor] Ord[inarius] anno aetat[is] 36. A[nn]o. MDCCVI.“ (u. a. in Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Inventar-Nr. A 21481; online verfügbar im Digitalen Portraitindex). Offenbar wollte Sturm bewusst seine publizistische Taktik verteidigen, sich durch die Abfassung von Streitschriften einen Namen zu machen, in denen er die Fehler und Ungereimtheiten der Veröffentlichungen seiner Fachkollegen aufdeckte. 1704 hatte er sich gerade einen solchen publizistischen Schlagabtausch mit dem Festungstheoretiker Ernst Friedrich von Borgsdorff geliefert (s. Bürger 2013, S. 524-527; Büchi 2018, S. 151f.). Und 1706 hatte er sogar im sogenannten Berliner Münzturmstreit über den geschätzten Schlossbaumeister Andreas Schlüter obsiegt, der im Jahr darauf aus seiner leitenden Position entfernt wurde, wenn er auch als Bildhauer für den Berliner Hof tätig blieb (s. oben u. Schädlich 1990, S. 105).
- Mit seinem Wechsel 1711 nach Schwerin und nach seiner Ernennung zum Kammerrat im April 1712 ließ Sturm eine vereinfachte Version des vorgenannten Porträtstichs anfertigen, unter Auslassung aller aufwendigen ikonografischen Anspielungen und lateinischen Inschriften. Mit dem Blatt versuchte er wohl seiner durch den Übertritt zum Calvinismus und durch den Rückzug aus Brandenburg-Preußen sich äußernden, weniger auftrumpfenden, wenn auch selbstbewussten Lebenshaltung Ausdruck zu geben. Als Stecher kommt Johann Georg Mentzel in Frage, was jedoch ungesichert ist. Der Stecher orientierte sich für das Porträt am Kupfer Bernigeroths. Nun ist das Porträtmedaillon, von etwas Draperie umgeben, wieder ungerahmt und lediglich auf einer profilierten Brüstung abgestellt. Die dort eingravierte Inschrift ist auf Deutsch abgefasst und lautet: „Leonhard Christoph Sturm. Mathematicus, und Fürstl. Mecklenb. Cammer=Rath und Bau=Director“ (u. a. in der Universitätsbibliothek Heidelberg, Inv.-Nr. Graph. Slg. P_1448; online verfügbar im Digitalen Portraitindex).
Zur Quelle
Der vollständige Titel des Buchs, aus dem hier der auf Frankreich bezogene Teil wiedergegeben wird, lautet: Leonhard Christoph Sturms Durch einen grossen Theil von Teutschland und den Niederlanden biß nach Pariß gemachete Architectonische Reise-Anmerckungen / Zu der Vollständigen Goldmannischen Bau-Kunst VIten Theil als ein Anhang gethan / Damit So viel des Auctoris Vermögen stehet / nichts an der Vollständigkeit des Wercks ermangle. Cum Gratia & Privilegio Sacrae Caesareae Majestatis. Augspurg / In Verlegung Jeremiae Wolffen/ Kunsthändlers. Daselbst gedruckt bey Peter Detlefssen. Anno M DC XIX. Das Buch erlebte 1760 eine zweite Auflage, die bei demselben Augsburger Verleger Jeremias Wolff herauskam. Hier verwendet wird das Exemplar der ersten Auflage von 1719 aus dem Sammlungsbestand des Getty Research Institute (GRI) in Los Angeles (Getty Research Institute, Research Library, Special Collections, Signatur 85-B25243). Bei dem Buch handelt es sich um ein Folio-Format mit einer durchschnittlichen Blattgröße von 33 x 20 cm. Es umfasst 144 in Frakturschrift gedruckte Textseiten und 52 teilweise aufklappbare Kupferstichtafeln (nummeriert von A bis D vor dem Textteil und von I bis XLVIII im Anschluss an den Textteil). Leonhard Christoph Sturm lieferte die Vorlagen zu den von Johann August Corvinus in Kupfer gestochenen und von Jeremias Wolff gedruckten Blättern. Das Buch ist in Form von Briefen verfasst. Aus einsichtigen Gründen der wissenschaftlichen Kohärenz des Projekts werden nur jene Briefe wiedergegeben, die sich unmittelbar auf Frankreich beziehen, also die Briefe Nr. XII bis XXVI, S. 48-132 (von der Ankunft Sturms in der Île-de-France bis zu seiner Abreise über Amiens, Lille, Gent). Vorangestellt wird jedoch Brief Nr. I, Ansicht 5 (S. 3), der für das Verständnis der fiktionalen Rahmenhandlung wichtig ist. Weggelassen sind die Briefe Nr. II-XI, S. 4-48 (Hinreise über Magdeburg, Braunschweig, Hannover, Kleve, Nimwegen, Deventer, Breda, Antwerpen, Brüssel bis zum Eintritt in Frankreich über Valenciennes und Saint-Quentin), und Nr. XXVII-XXVIII, S.132-144 (Rückreise über Delft, Ryswijk, Alkmar, Enkhuizen, Groningen, Bremen, Hamburg und Lübeck nach Rostock). Von den Bildtafeln (abgekürzt „Tab.“ für „Tabula“) werden hier nur diejenigen reproduziert, die in dem auf Frankreich bezogenen Teil Erwähnung finden: Tab. B und C, Tab. XIIII sowie Tab. XVIII bis XLVI.
Wie bereits erwähnt, fasste Sturm die Architectonischen Reise-Anmerckungen als eine Ergänzung, neben vielen anderen, zu dem von ihm seit 1696 immer wieder neu herausgegebenen Traktat zur Civilbaukunst des Mathematikers Nikolaus Goldmann auf. Besagte Reise-Anmerckungen sollten zwar vorab als eigener Band erscheinen, waren aber — wie auf dem Titelblatt angegeben — letztlich als „VI. Theil“ einer ganzen Reihe an Kommentaren gedacht, die in enger Folge seit 1714 publiziert wurden. Daher sind die Reise-Anmerckungen auch oft mit anderen Schriften aus der Reihe zusammengebunden.
Sturm war 1697 für sechs Wochen in den Vereinigten Provinzen der Niederlande gewesen und 1699 wiederum durch die Niederlande und Flandern gekommen, um für zehn Wochen in Frankreich und vor allem in Paris zu weilen. Bereits die frühen Biographen erwähnen diese Reisen (s. Zedler 1744, Sp. 1424; Humbert 1747, S. 62). 1712 schloss sich nochmals eine einmonatige Studienreise in die Niederlande an. Über die Länge dieser verschiedenen Aufenthalte gab eine 1719 von Sturm selbst kurz vor seinem Tod handschriftlich verfasste Autobiografie Auskunft: Leonhard Christoph Sturms Mathematici Lebenslauff, von ihm selbst geschrieben, nebst beigefügter Nachricht von seinem Tode. Doch müssen die beiden Abschriften, die sich davon in der Berliner Staatsbibliothek bis 1945 nachwiesen ließen (Mss. Nicolai 227 und 228; nach alter Zählung: 115 und 116), als Kriegsverlust gelten (s. Lorenz 1995, S. 119, Anm. 3). Allerdings konnte Isolde Küster für ihre 1942 vorgelegte Dissertation zu Leonhard Christoph Sturm diese Quelle noch im Original einsehen: Aus ihrer Arbeit übernimmt die jüngere Literatur den Hinweis, dass die erste Reise in die Niederlande sechs und die zweite nach Frankreich zehn Wochen (mit einer An- und Abreise von zusätzlichen fünf Wochen) gedauert habe (s. Küster 1942, S. 13 u. 33). Es sei darauf hingewiesen, dass Heinz Ladendorf ebenfalls vor dem Krieg noch eine stichpunktartige Abschrift der Autobiografie Leonhard Christoph Sturms vornehmen konnte; darin werden besagte Angaben zu den Längen der Auslandsaufenthalte Sturms bestätigt (freundlicher Hinweis von Matthias Franke). Diese Exzerpte liegen im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Ladendorf, AS 3, Mappe 1 „Sturm“ (s. Lorenz 1995, S. 119, Anm. 3; Franke 2009, S. 149, Anm. 4). Zudem liegt in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel noch eine auf Lateinisch verfasste Teilabschrift des Lebenslaufs von Leonhard Christoph Sturm (HAB Sig.: 255.8 Extra 379), wie mir Matthias Franke freundlicherweise mitgeteilt hat. Inwieweit sich die Auszüge aus Nürnberg und Wolfenbüttel decken, konnte ich jedoch nicht mehr ermitteln. Eine zusätzliche Quelle, die zur genaueren Eingrenzung der Auslandsaufenthalte Sturms in seiner Wolfenbütteler Zeit herangezogen werden kann, stellen die Ausleihbücher der dortigen herzoglichen Bibliothek dar: Eine Ausleihpause unter seinem Namen zwischen dem 4. Juli und 13. Oktober 1699 (s. Raabe 1998, S. 349f.) könnte ein Indiz dafür sein, dass Sturm in diesen vierzehneinhalb Wochen nach Frankreich gereist ist.
Sturms Reise-Anmerckungen sind in Form von Briefen verfasst, die der in Rostock weilende Autor angeblich zwischen Anfang Mai 1716 und Ende Februar 1717 — wie im ersten einleitenden Schreiben dargelegt — einem gerade auf Reisen befindlichen Freund in regelmäßigen Abständen nachsendet. Dieser hat gerade den Sohn eines Grafen auf dessen Bildungsreise nach Frankreich über die Niederlande zu begleiten (s. Brief Nr. I, S. 3; wiedergegeben in hiesiger Edition). Sturms einstige und nun geordnete Notizen seiner vor Jahren unternommenen Reise sollen dem Freund als Orientierungshilfe bei der Unterweisung seines Schützlings dienen. Allerdings — so gibt Sturm des Weiteren an — sei ihm damals durch einen Dienstboten ein Konvolut an Zeichnungen gestohlen worden. Diese fingierte Erzählsituation gibt Sturm vor allem die Möglichkeit, indem er die Darstellung als einen ihm abgenötigten Freundschaftsdienst hinstellt, den zeitlichen Abstand, der zwischen seinen schon lange zurückliegenden Reisen und der Abfassung des Buches lag, zu überspielen und die auftretenden Anachronismen und Ungenauigkeiten seiner Beschreibungen zu entschuldigen (z. B. erwähnt Sturm nicht die neue Königliche Kapelle im Schloss von Versailles, die zwischen 1699 und 1710 errichtet wurde). Das Abfassen eines Reiseberichts in Briefform war an und für sich nichts Außergewöhnliches. Zum Beispiel verfasste Baron Karl Ludwig von Pöllnitz 1735 seine Nachrichten als fiktive Briefe an den „Herrn C. D. S.“ (s. Pöllnitz 1735). Thomas Grosser deutet die Erzählsituation falsch, wenn er annimmt, dass Sturm „seine obligatorischen Rechenschaftsberichte, die er von seiner Reise nach Frankreich im Jahr 1699 nach Wolfenbüttel geschickt hatte“, veröffentlicht habe (s. Grosser 1989, S. 132). Sturm verleiht seinen Reisebeschreibungen einen literarischen Anstrich, indem er die Eindrücke in Form von fiktiven Briefen wiedergibt. Das gewährt ihm die Möglichkeit, den umfangreichen Stoff in überschaubare Einheiten oder „Lektionen“ zu gliedern — ganz im Sinne seiner belehrenden, didaktischen Wirkabsicht. Man sollte sich nicht täuschen lassen: Die schließlich 1719 publizierten Architectonischen Reise-Anmerckungen sind aus der Kompilation unterschiedlicher Reisenotizen und Zeichnungen entstanden, die aus verschiedenen Zeiten stammen. Der von Simon Paulus anhand der Ortsangaben in den Reise-Anmerckungen kartografisch dargestellte Reiseverlauf gibt nur die fiktionale Route wieder, nicht zwangsläufig einen tatsächlich von Sturm genommenen Weg (s. Paulus 2011, S. 53-59, mit Karte des Reisverlaufs S. 54f.). Daher haben wir bei hiesiger Online-Ausgabe auf eine grafische Darstellung des Reiseverlaufs verzichtet.
Versuchen wir, einen Überblick über Sturms verwendete Materialien zu gewinnen, die in das Buch eingeflossen sind:
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Eine schriftlich ausformulierte Vorstufe zu den Architectonischen Reise-Anmerckungen hat sich unter dem Titel Kurtze Beschreibung einer Tour durch Holland nach Frankreich, von Braunschweig in der Universitätsbibliothek Rostock erhalten. Dieses Manuskript ist mit zahlreichen Zeichnungen durchsetzt, welche nur zum Teil in die gedruckte Version eingeflossen sind. Das Manuskript wurde von Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck (um 1685?-1720) angefertigt (s. die hiesige digitale Online-Edition). Guido Hinterkeuser hat dieses aussagekräftige Dokument erstmals in den Forschungsdiskurs eingebracht (s. Hinterkeuser 2009, S. 132, Anm. 3). Florian Dölle, Mitarbeit im hiesigen Projekt, gebührt das Verdienst, auf die enge Verbindung zwischen den beiden Schriften von Sturm und Knesebeck aufmerksam gemacht zu haben. In gemeinschaftlichen Diskussionen und durch weiterführende Untersuchungen von Guido Hinterkeuser schälten sich die nachfolgend geäußerten Vermutungen zum Abhängigkeitsverhältnis beider Schriften heraus: Knesebeck war um die Jahrhundertwende als Fähnrich in den Dienst von Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Schwerin eingetreten; in einer eigens geschaffenen Pionierkompagnie brachte er es schließlich bis zum Rang eines Ingenieur-Kapitäns (s. Hinterkeuser 2006, S. 71f.). Knesebeck hatte versucht, sich in Schwerin bei Jakob Reutz († 13. Oktober 1710) zum Architekten auszubilden, was aber an dessen Desinteresse scheiterte. Dennoch bildete er sich als Autodidakt fort und erwarb sich ein erstaunliches architektonisches Wissen, unter anderem durch die Lektüre von Sturms Schriften, die er nachweislich sehr bewunderte (s. ebd.). Als Sturm schließlich 1711 als Nachfolger von Reutz nach Schwerin kam, scheint Knesebeck in ein engeres Arbeits- und Vertrauensverhältnis zu Sturm getreten zu sein. In diesem Kontext ist Knesebecks Manuskript entstanden. Sturm wandte sich seit 1713 verstärkt verschiedenen publizistischen Vorhaben zu, darunter auch der Veröffentlichung der Erkenntnisse aus seinen Auslandsreisen nach Frankreich, in die Niederlande und nach Flandern. Er könnte Knesebeck gebeten haben, seine einstigen Aufzeichnungen in ein Dokument zusammenzuführen und dabei ins Reine zu übertragen. Von der literarischen Aufbereitung des Stoffes in Form von Briefen — wie sie die spätere Buchfassung kennzeichnet — ist im Manuskript von Knesebeck noch nichts zu finden. Zwischen 1711 und Sommer 1713 trat Knesebeck allerdings nachweislich selbst eine Frankreichreise an, wie aus einigen erhaltenen, leider jedoch undatierten Briefen ersichtlich ist (s. Hinterkeuser 2020, S. 254-256). Es könnte daher auch sehr gut sein, dass Leonhard Christoph Sturm Knesebeck zur Vorbereitung seiner Reise die Abschrift seiner einstigen Reiseaufzeichnungen gewährt hat.
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Als Sturm schließlich an die Redaktion des Buches ging, schrieb er den von Knesebeck kompilierten Text um, indem er bestimmte Abschnitte wegließ, dafür andere hinzufügte bzw. ausbaute. Dazu bediente er sich massiv einer der Ausgaben der Description nouvelle de la ville de Paris, die Germain Brice (1652-1727) seit 1684 immer wieder in neuen Auflagen herausgegeben hat (s. Brice 1971, S. XLVII: Auflistung der Neuauflagen und Nachdrucke bis zur neunten und letzten Neuauflage von 1752). Sturm besaß die 3. Auflage von 1698: Nach dem Tode des einstigen Wolfenbütteler Mathematikprofessors gelangte ein Großteil seiner Bibliothek in den Besitz der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Im einschlägigen historischen Bestandskatalog (HAB, BA I, 673), der 2020 digital erschlossen wurde, ist die entsprechende Auflage aufgeführt. In seinen Reise-Anmerckungen schildert Sturm, wie er die Ausführungen bei Brice als Grundlage für seine eigenen, von ihm vorgeschlagenen Stadtrundgänge genutzt hat (S. 50). Er sei nicht immer der Ordnung von Brice gefolgt, und seine Darstellungen seien durchaus als eine Verbesserung des Buchs von Brice zu versehen: Fett markierte Textpassagen sollen dem Leser anzeigen, wo Sturm vom Text des französischen Cicerone abweicht und diesen korrigiert (S. 51). In hiesiger transkribierter Online-Edition wurden diese selbst am Original nicht immer eindeutig auszumachenden typografischen Unterschiede nicht wiedergegeben, um die Leser*innen nicht zu verwirren.
Fast auf jeder Druckseite finden sich distanzierende Bemerkungen zu den Bewertungen und Beobachtungen von Brice — Passagen, die in der Handschrift Knesebecks gänzlich fehlen. Einige Beispiele seien herausgegriffen (zwei weitere unter der Rubrik „Highlights auf einen Klick“): Die von Brice kolportierte Anekdote, im Bauch der bronzenen Reiterstatue Ludwigs XIV., die auf der Pariser Place des Conquêtes (bzw. Place Vendôme) errichtet worden sei, könnten 20 Personen ohne Probleme Platz finden, wird von Sturm als „Gasconade“ — als Prahlerei — bezeichnet. (S. 60). Die Fontaine des Innocents in Paris sei mit Pilastern ionischer und nicht korinthischer Ordnung geziert, wie Brice fälschlicherweise angebe (S. 67). Implizit wird damit dem Franzosen Anmaßung, Ungenauigkeit und Unaufrichtigkeit unterstellt.
Es könnte sein, dass Sturm gerade deswegen so beckmesserisch mit Brice abrechnete, weil Germain Brice der siebten Auflage seines Reiseführers, die 1717 auf den Markt kam, ein längeres Widmungsschreiben voranstellte. Darin würdigte Brice August Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel, der seit 1714 in der Nachfolge seines Vaters Herzog Anton Ulrich in Wolfenbüttel regierte. Sturm hatte zwischen 1694 und 1702 im Dienst von Herzog Anton Ulrich gestanden. Obwohl Brice nie nach Deutschland gereist war, lobte er in seinem Widmungsschreiben das Residenzschloss Salzdahlum — von dessen Konstruktion Sturm ausgeschlossen worden war — als ein „deutsches Versailles“ (s. Brice 1717, Bd. I, „Épître“, o. S.): „[...] Tout le monde convient que la France a des beautez extraordinaire & tres-dignes d’admiration en tout genre; cependant les personnes qui ont vû les endroits les plus renommez de l’Europe, ont obsersvé qu’il se voit encore ailleurs dequoi satisfaire la curiosité le plus étendue. Le palais de Saltzdahl, qu’on peut avec juste raison nommer le Versailles de l’Allemagne, [...] sera une marque éternelle de l’heureux discernement de V. A. S.“ Brice erhielt für seine gezielte Werbung für den deutschen Residenzbau in seinem weitverbreiteten Reiseführer von Herzog August Wilhelm eine Gold- und eine Silbermedaille mit dem Antlitz des Fürsten. Beim Tod von Brice 1727 wurde deren Wert auf 410 Livres bzw. 18 Livres geschätzt (s. Brice 1971, S. XIV). Solche Bevorzugungen müssen Sturm ein Ärgernis gewesen sein.
Dennoch darf das Verfahren Sturms, seine Reise-Anmerckungen als „Gegentext“ zur Description von Brice zu verfassen, nicht nur als neidvolle Abrechnung mit einem erfolgreichen publizistischen Konkurrenten abgetan werden: Der Rückbezug auf einen bereits vorliegenden Text, den man in didaktischer Absicht kommentiert und „verbessert“, ist ein in gelehrten humanistischen Kreisen bis zum Barock typisches Vorgehen, das weit mehr ist als ein bloß geistloses eklektisches Zitieren und Kopieren. Vielmehr wird es als ein erkenntnisförderndes Verfahren verstanden, mit dem sich der Autor in einen Überlieferungszusammenhang einordnet: Er zollt damit seinem Vorgänger Respekt, wenn er auch versucht, über das bisher Geleistete hinauszugehen. -
Dieselbe belehrende Zielsetzung — die durchaus zuweilen etwas Pedantisches und Kleinliches bekommen kann — verfolgte Sturm auch mit der Beigabe der Kupferstiche nach seinen Entwürfen. Auf seinen Reisen hat Sturm Zeichnungen angefertigt, die er teilweise als Vorlagen für Kupferstiche verwendet hat, welche wiederum in seine zahlreichen Publikationen eingeflossen sind. Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg verwahrt in seiner Bibliothek drei Foliobände mit eingeklebten, ins Reine gezeichneten Vorlagen unter der Signatur 2° Hs. 94142. Darunter befinden sich in Bd. II (Teil f), S. 78-127, diejenigen Zeichnungen, die als Vorlagen für die in den Architectonischen Reise-Anmerckungen publizierten Kupferstiche gedient haben (s. Isphording 2014, Nr. 357, S. 218f.). Wie sich diese Vorzeichnungen zu denen im Manuskript von Christian Friedrich Gottlieb von dem Knesebeck überlieferten Darstellungen und zu den schließlich als Kupferstiche publizierten Abbildungen des Buches verhalten, bleibt zu untersuchen. Häufig werden die behandelten Bauten mit bereits publizierten Stichwerken abgeglichen und dann zeichnerisch „verbessert“. Meistens zieht Sturm dazu Blätter von Jean Marot heran, einem von ihm durchaus geschätzten Architekten und Kupferstecher, den er weit über Brice stellt (zu Marots druckgrafischem Œuvre s. Deutsch 2015). Fast nie wird von Sturm der tatsächliche Bauzustand wiedergegeben. Doch ab und an werden in synoptischen Ansichten der gegebene und der verbesserte Zustand einander auf demselben Blatt gegenübergestellt. Dieses Verfahren — bei dem der Architekt sein entwerferisches Geschick anschaulich vor Augen stellen kann — ist allerdings alt; es lässt sich bereits im Codex Barberini von Giuliano da Sangallo, einem Zeichnungsband aus dem 15. Jahrhundert, nachweisen und wurde dann in dem wahrscheinlich 1562 in Rom gedruckten und weit verbreiteten Traktat Regole delli cinque ordini d’architettura von Jacopo Barozzi da Vignola vielfach verwendet (s. Deutsch 2010, S. 405 u. 410). Nur die Häufung, mit der es Sturm einsetzt, ist singulär. Bereits Abraham von Humbert, einer der ersten Biographen Sturms, sah sich daher genötigt, Sturms Vorgehen zu verteidigen — etwa seine Vorschläge zur Verbesserung des Eingangsportals des Hôtel de La Vrillière (s. S. 65f. u. Tab. XXIV mit dem verbesserten Portal bzw. Humbert 1747, S. 64; für eine ausführliche Analyse dieser Vorgehensweise s. Ziegler 2015).
Seine Grafiken fertigte Sturm aber teilweise auch explizit als Ergänzungen zu bereits auf dem Markt kursierenden Blättern: Zum Hôtel Pussort in der Rue Saint-Honoré gab es nur eine grafische Ansicht der Gartenfassade von Jean Marot (s. Deutsch 2015, S. 167-171 u. Fig. 27, S. 166). Sturm lieferte dazu ergänzend die Ansicht der Eingangsfassade (S. 63 u. Tab. XXVI). Das steigerte die Attraktivität des Buches für die Spezialisten. Wie Sturm mit den grafischen Blättern Marots und den Beschreibungen von Brice umging und sie interpretierte, muss noch genauer analysiert werden.
Exkurs: Zum politischen Kontext der Frankreichreise Sturms
Um den Quellenwert von Sturms Architectonischen Reise-Anmerckungen einschätzen zu können, muss abschließend der politische Kontext beleuchtet werden, in dem Sturm seine Frankreichreise 1699 unternahm: 1698 hatte Herzog Anton Ulrich einen Bündnisvertrag mit Ludwig XIV. geschlossen, der 1701 erneuert wurde. Der Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel hoffte, mittels der politischen und finanziellen Unterstützung Frankreichs die Zuweisung der neunten Kurwürde an die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg anfechten zu können. Die in Hannover residierende ältere welfische Linie hatte 1692 beim Kaiser die begehrte Rangerhöhung durchsetzen können. Anton Ulrich, der sich dabei vom Kaiser übergangen fühlte, beabsichtigte mit Hilfe beträchtlicher französischer Subsidienzahlungen die Befestigungsanlagen seines Territoriums zu verbessern und Truppen auszuheben, um gegen die Kurfürsten von Hannover und deren Verbündete, die vom Kaiser unterstützt wurden, vorgehen zu können. Ludwig XIV. seinerseits wollte Wolfenbüttel als anti-habsburgische Bastion im Herzen des Reichs im sich anbahnenden Erbfolgestreit um die spanische Krone auf seiner Seite wissen. Leonhard Christoph Sturm reiste also als Untertan einer alliierten Macht nach Frankreich, was ihm sicherlich manchen Zutritt zu königlichen Schlössern erleichtert haben wird, selbst wenn er jegliche Sonderbehandlung in seinen Reise-Anmerckungen negiert (Sturm betont vielmehr die Schwierigkeiten, denen er begegnet ist, beispielsweise als er in Versailles Maß nehmen wollte; s. S. 110, 119 u. 120). Die Allianz zwischen Ludwig XIV. und Anton Ulrich trug allerdings keine Früchte. Der Herzog, der die französischen Subsidien in weiten Teilen auf seine Bauvorhaben und sein höfisches Divertissement verwendete, musste sich schließlich der militärischen Übermacht seiner Kontrahenten beugen und in Etappen — 1702 und endgültig 1706 — die Erhebung des Hauses Brauschweig-Lüneburg in den Kurfürstenstand akzeptieren (s. Dölle 2014, S. 97-100). Während des bis 1713/14 in weiten Teilen Westeuropas geführten Spanischen Erbfolgekriegs machte die Abfassung und Publikation eines didaktischen Lehrbuchs zur Pariser Architektur wenig Sinn. Erst nach dem Ende des Konflikts scheint sich Sturm ab 1713 an die Umarbeitung seiner Reisenotizen zu einem druckbaren Buch gemacht zu haben.
Der scharfe anti-französische Ton, der in den Urteilen Leonhard Christoph Sturms anklingt, mag sich auch daraus erklären, dass der Autor unter den neuen Machtverhältnissen im Reich vergessen machen wollte, dass sein ehemaliger Herr, dem er seine Reise nach Frankreich verdankte, zu den Parteigängern Ludwigs XIV. im Reich gehört hatte.
Forschungsstand
Erstaunlicherweise liegt bis heute noch keine monografische Studie zu den Architectonischen Reise-Anmerckungen Leonhard Christoph Sturms vor. Allerdings hat Anna Hartmann in ihrer im Jahr 2000 eingereichten französischen Masterarbeit erstmals eine umfassend kommentierte Übersetzung der Reise-Anmerckungen vorgelegt, die auch die Grundlage für die hiesige Online-Ausgabe in ihrer französischen Textversion bildet (s. Hartmann 2000). Es ist Hartmanns Verdienst, die Grundlagen für eine unvoreingenommene Lektüre dieses Schlüsseltextes von französischer Seite gelegt zu haben, der seit Louis Réau nur beiläufig und meist abschätzig abgehandelt wird (s. Réau 1924, S. 117f.; Réau 1928, S. 20; Du Colombier 1956, Bd. I, S. 78 u. 251, Anm. 143; Pérouse de Montclos 1982, S. 214f.).
Dabei hat die Forschung zu Sturm von deutscher und niederländischer Seite gerade in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen, indem vielfältige bisher nicht genügend berücksichtigte Facetten seines Wirkens beleuchtet worden sind: Zu Sturms Verbindung zum Pietismus ist, nachdem Wotschke dazu bereits 1931 eine erste Untersuchung vorlegt hat (s. Wotschke 1931), von Franke gearbeitet worden (s. Franke 2009). Die Verdienste des Gelehrten auf dem Feld der Mathematik (s. Knobloch 2005) sind ebenso gewürdigt worden wie seine Beiträge zum Festungsbau in Form von Traktaten und Streitschriften (s. Bürger 2013, S. 522-531; Büchi 2018; Paulus 2020). Nachdem bereits Cornelius Gurlitt und Jan Henrik Plantenga den Architectonischen Reise-Anmerckungen erste Einzeluntersuchungen gewidmet hatten (s. Gurlitt 1922; Plantenga 1934), ist in jüngster Zeit wieder das Interesse speziell an dieser Schrift gestiegen: Eine breitere Einbettung der Reise-Anmerckungen in den Kontext der Architektenreisen hat Paulus unternommen (s. Paulus 2011, S. 53-59). In Weiterführung der Studie von Plantenga ist Sturms Wahrnehmung der niederländischen Architektur mehrfach untersucht worden (s. Paulus 2014, S. 262-266; Dunk 2016). Sturms kritischen Urteilen über die französische Kunst ist der Autor mehrfach nachgegangen (s. Ziegler 2010, S. 170-173; Ziegler 2013, S. 215-219; Ziegler 2015).
Sturms Verhältnis zur französischen Architekturtheorie vor dem Hintergrund der dort Ende des Jahrhunderts gerade ausgetragenen „Querelle des Anciens et Modernes“ hat Christian Freigang grundlegend untersucht: Da Sturm an unumstößliche, mathematisch begründete Proportionsgesetze glaubte, wie sie letztlich aus der Bibel abzuleiten seien, konnte ihm — so Freigangs Schlussfolgerung — keine überzeugende Formulierung eines architekturgeschichtlichen Entwicklungsmodells gelingen. Denn solche Modelle beruhen auf der Erkenntnis der Relativität geschichtlicher Schönheits- und Proportionsgesetze, wie sie die Protagonisten der „Querelle“ — François Blondel und Claude Perrault — in unterschiedlicher Gradation durchaus anerkannten (s. Freigang 2004). Das mag auch erklären, warum Sturm in seinen Architectonischen Reise-Anmerckungen sowohl Perraults Kunst der Stereotomie lobt als auch gewisse Bauten von François Blondel. Erstaunlicherweise ist Sturms Bewunderung für Claude Perrault bisher in der Forschung nicht erkannt worden (s. Petzet 2000).
Bezüglich der Umsetzung der Theorie in die Baupraxis haben sich hinsichtlich Leonhard Christoph Sturm zwei unterschiedliche Forschungsmeinungen herausgebildet: Während Hellmut Lorenz von einer geringen sich konkret niederschlagenden Wirkung der theoretischen Überlegungen Sturms ausgeht (s. Lorenz 1992; Lorenz 1995), hat Edzard Rust versucht aufzuzeigen, in welchem Maße bei bestimmten Bauaufgaben die theoretisch fundierten Standardlösungen, die Sturm in seinen zahlreichen Schriften vorgeschlagen hat, Einfluss auf gebaute Architektur im deutschen Sprachraum um und nach 1700 gehabt haben (s. Rust 2007). Rust kann mehrere Bauaufgaben ausmachen, bei denen das Sturm’sche Ideenreservoir wegweisende Anregungen geliefert hat, wenn diese auch meist abgewandelt wurden: etwa Sturms Querkirchenentwürfe für den protestantischen Kirchenbau, sein Vorschlag für einen solitären Opern- und Theatersaal mit vorgeschaltetem Festsaal für den Theaterbau, oder Sturms Plädoyer in seinen Schloss- und Gutsherrenhausentwürfen für die mittige Anordnung von Vestibül und daran anschließender dreiläufiger Treppe, die zu einem Festsaal oberhalb der Eingangshalle hinaufführt (s. Rust 2007, S. 516, 519f. u. 520). Auch Franke hat jüngst versucht, Sturms konkretes Wirken fassbar zu machen, etwa im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin (s. Franke 2020). Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wäre danach zu fragen, inwieweit die in den Architectonischen Reise-Anmerckungen gemachten „Verbesserungsvorschläge“ an französischen Bauwerken einen nachweisbaren Einfluss auf die deutsche Baupraxis gehabt haben.
Highlights auf einen Klick
Beständige kritische Auseinandersetzung mit den von Germain Brice in seinem in verschiedenen Auflagen erschienenen Vademecum Description de la ville de Paris formulierten positiven Würdigungen der französischen Architektur: Fast auf jeder Seite findet sich ein kritischer Kommentar zu Brice. Nur zwei Beispiele: Brice lobe zu Unrecht den Pont Neuf in Paris als einzigartig, denn Brücken ohne Randbebauung gäbe es auch in Regensburg, Prag und Dresden (S. 82). Die Maße der Königskirche (Église du Dôme) des Hôtel des Invalides würden von Brice größer angegeben, als sie in Wirklichkeit seien (S. 93).
Bewunderung für die französische Hausteintechnik nach den Regeln der Stereotomie; die diesbezügliche Vorbildlichkeit der Bauten von Claude Perrault wird von Sturm immer wieder herausgestellt: an erster Stelle die Ostfassade des Palais du Louvre (S. 55) und das Observatoire (S. 100).
Ausführliche und eigenständige Beschreibung der Gemälde des Medici-Zyklus von Peter Paul Rubens, damals im Palais du Luxembourg, heute im Musée du Louvre (S. 87-89); besonders eigenwillig ist Sturms Beschreibung des Gemäldes der Geburt des Dauphins, des späteren Ludwig XIII. (die Nr. 9 in seiner Auflistung, S. 88).
Sturm erkennt als einer der wenigen Reisenden die politische Tragweite der Gemälde der Grande Galerie (der Spiegelgalerie) im Schloss von Versailles (S. 121).
Ausführliche und reflektierte Auseinandersetzung mit der Kirchen- und Zivilarchitektur in Paris, z. B. mit dem Hôtel Amelot de Bisseuil, zu dem Sturm einen ausführlichen und illustrierten Verbesserungsvorschlag beigibt (S. 76-78 u. Tf. XXIX).
Sturm ist einer der wenigen deutschen Architekten, der namentlich André Le Nôtre erwähnt, den berühmten Ordentlichen Gärtner des Königs, dessen Wohnhaus und umfangreiche Kunstsammlung am Palais des Tuileries er besieht (S. 53f.).
Bibliografie
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Bearbeiter*innen
Einleitungstext: Hendrik Ziegler, kontrolliert v. Marion Müller u. Florian Dölle; Übersetzung ins Französische: Jean-Léon Muller.
Transkription der Edition (Sturm): Marion Müller, kontrolliert v. Hendrik Ziegler.
Annotation der Edition (Sturm): Anna Hartmann, Marion Müller u. Hendrik Ziegler.
Registererstellung in Deutsch und Französisch: Bastien Coulon, Florian Dölle, Angela Göbel, Anna Hartmann, Marion Müller, Alexandra Pioch u. Hendrik Ziegler; kontrolliert u. ergänzt durch Jean-Léon Muller u. Marie-Paule Rochelois.
Übersetzung der annotierten Transkription ins Französische: Anna Hartmann u. Antoine Guémy, kontrolliert v. Marion Müller, Hendrik Ziegler, Alexandra Pioch u. Marie-Paule Rochelois.
Kodierung der deutschen und französischen Edition (Sturm): Marion Müller, kontrolliert v. Chloé Menut, Axelle Janiak u. Mathieu Duboc.
Balthasar Neumann
Die Briefe, die Balthasar Neumann während seiner Frankreichreise zwischen Januar und April 1723 an seinen Dienstherrn, den Würzburger Fürstbischof Johann Philipp Franz von Schönborn, richtete, sind vor allem deswegen aufschlussreich, weil sich darin das diplomatische Geschick des später berühmt gewordenen fränkischen Barockarchitekten äußert. Neumann war nach Frankreich entsandt worden, um seine Planungen der seit dem Jahreswechsel 1719/20 projektierten Würzburger Residenz dem Ersten königlichen Architekten Robert de Cotte vorzulegen. Doch neben de Cotte, suchte Neumann auch den Rat von Germain Boffrand, dem „Premier architecte“ der Herzöge von Lothringen. In den insgesamt 19 erhaltenen Briefen, die größtenteils seine Unterredungen zusammenfassen, zeigt sich Neumann zwar den gestalterischen und geschmacklichen Präferenzen seiner französischen Kollegen gegenüber aufgeschlossen, doch versucht er beharrlich seine eigenen Planungsvorstellungen nicht zu verleugnen. Einer latenten Abwehrhaltung hinsichtlich französischer Architekturvorstellungen — was Fassadengestaltungen und Innenraumdistributionen anbelangt — steht gleichzeitig eine aufrichtige Bewunderung für die neue französische Innendekoration und das französische Kunstgewerbe gegenüber. Diese Ambivalenz macht die Briefe Neumanns, die bisher noch nie vollständig ins Französische übersetzt worden sind und auch in der französischen Forschung noch nicht genügend Beachtung gefunden haben, besonders aussagekräftig — vor allem mit Blick auf die künstlerischen Wechselbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich während der Régence und der frühen Regierungszeit Ludwigs XV.
Zur Person
Von Balthasar Neumann (1687-1753) haben sich nur einige wenige zeitgenössische Bildnisse erhalten (s. Hansmann 1986, S. 88-91; zu einem jüngsten Fund: Dombrowski/Uluçam 2020, Kat.-Nr. 4, S. 60-63). Zu den berühmtesten zählt die Darstellung am südlichen Gewölbeansatz des großen Treppenhauses in der Würzburger Residenz. Das eisenarmierte Flachgewölbe mit einer Spannweite von 19 auf 32 Metern bei einer Stichhöhe von nur 5,50 Metern zählt zu den bautechnischen Glanzleistungen des Artillerieoffiziers und Ingenieurarchitekten. Der venezianische Freskant Giovanni Battista Tiepolo malte die riesige Fläche 1752/53 mit einer Allegorie der vier Weltteile aus, in deren Mitte die kaiserliche Sonne als Friedensbringerin hervortritt, personifiziert als Apoll mit einer Herkulesstatue in der Hand (s. Stephan 2002, Bd. I, S. 181; Bd. II, Abb. 44 u. 45). Als Tiepolo im September 1753 die Arbeiten am Fresko abschloss, war Neumann erst seit einigen Wochen nicht mehr am Leben: Er war am 19. August gestorben und am 22. des Monats in der Marienkapelle am Markt beigesetzt worden (s. zu den Lebensstationen Neumanns Hansmann 1986, S. 8-88 u. Korth 1999; Satzinger 2016a). Tiepolo stellt Neumann in der exotisch anmutenden Livree eines hochfürstlich-würzburgischen Heiducken dar (s. Stephan 2002, Bd. II, Abb. 48; Störkel 1997, S. 151; Hansmann 2020, S. 101f.; Dombrowski/Uluçam 2020, Kat.-Nr. 29, S. 130-132). Seine Beine sind lässig über ein mächtiges Kanonenrohr gelegt: Damit wird ein Hinweis auf jene Truppengattung gegeben, in welcher Neumann seit seinem Eintritt ins fränkische Militär 1712 gedient hatte. Seine militärische Laufbahn war äußerst erfolgreich verlaufen: 1741 hatte es Neumann schließlich bis zum Rang eines Obristen des fränkischen Reichskreises gebracht. Der in seinem Leben so erfolgreiche Offizier und Architekt war im böhmischen Eger (Cheb im heutigen Tschechien) als siebtes von neun Kindern eines verarmten Tuchmachers zur Welt gekommen, wahrscheinlich am 27. Januar 1687 (gesichert ist lediglich das Taufdatum vom 30. Januar). Nach seiner um 1700 in Eger begonnenen Ausbildung zum Glocken- und Geschützgießer war Balthasar Neumann während seiner Gesellenwanderung 1711 ins fränkische Würzburg gekommen, um im Jahr darauf als Gemeiner in die militärischen Dienste des Hochstifts einzutreten und bald aufgrund seiner Begabung Karriere als Artillerist und Ingenieur zu machen.
Auch das in Öl auf Leinwand ausgeführte Brustbild von Markus Friedrich Kleinert aus dem Jahr 1727 wird in der einschlägigen Literatur oft reproduziert; es befindet sich heute im Museum für Franken — Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte in Würzburg (s. Hansmann 1986, Farbtafel 1; Klemm 1996; Hansmann 2020, S. 93-96). Das Gemälde zeigt den Artilleristen und Architekten ebenfalls — wie das spätere Fresko Tiepolos — zu Seiten einer Kanone als Verweis auf sein wichtigstes Metier. Neumann lässt sich als leitender Militär daher auch in Kürass mit Armschienen und locker übergeworfenem purpurroten Umhang darstellen; eine fein gepuderte Allongeperücke ziert seinen Kopf. In der Rechten, die auf dem von links ins Bild ragenden Kanonenrohr aufruht, hält er einen entrollten Plan, der die neuen von ihm errichteten Bastionierungen der Marienburg zeigt. Neumann war erst kurz zuvor mit dem Ausbau und der Modernisierung dieser Befestigungen des fürstbischöflichen Schlosses, das am westlichen Hochufer des Mains über der Stadt Würzburg thront, betraut worden. Doch ist Neumann auf Kleinerts Bild nicht nur hinter der Kanone postiert, sondern auch vor dem gerade im Rohbau fertiggestellten Nordflügel der neuen fürstbischöflichen Stadtresidenz. Stolz weist er mit der Linken — ohne dabei den Blick vom Betrachter abzuwenden — hinter sich auf den im Hintergrund gezeigten Bau. Dieser Flügel war der erste der ausgreifenden Anlage am Rennweg im Südosten der Stadt, an deren Planung und Realisierung Neumann seit Oktober 1719 maßgeblich gearbeitet hatte.
Kleinert fertigte höchstwahrscheinlich das Porträt im Auftrag von Neumann selbst an, als dieser sich in einer für ihn schwierigen Phase seiner Karriere befand: Am 18. August 1724 war Fürstbischof Johann Philipp Franz von Schönborn gestorben, der seit Herbst 1719 die Geschicke des Hochstifts bestimmt und Neumanns beruflichen Aufstieg entscheidend gefördert hatte. Gleich nach Amtsantritt hatte er Neumann mit der Anfertigung von Umbau- und schließlich Neubauplänen für die fürstbischöfliche Stadtresidenz am Rennweg betraut (s. Hubala/Mayer/Mülbe 1984, S. 110-124; Schütz 1986, S. 45-54; Hansmann 1986, S. 48-56). 1721 hatte er ihn für den Bau der Schönbornkappelle herangezogen, der Begräbnisstätte der Familie am nördlichen Querschiff des Würzburger Doms, an dessen Außengestaltung bis 1736 allerdings auch der Wiener Architekt Johann Lucas von Hildebrandt starken Anteil haben sollte (s. Reuther 1973, S. 63-65; Rizzi 1976, S. 141-144; Schütz 1986, S. 90-94 u. Farbabb. S. 32-37; Korth 1987). Schließlich hatte Johann Philipp Franz 1722 Neumann zum leitenden Gutachter der fürstbischöflichen Stadtbaukommission gemacht und damit an die Spitze des gesamten Zivilbauwesens im Hochstift gestellt (s. zur Baupolitik des Fürstbischofs: Hubala 1989, S. 32-36; Kummer 2000, S. 27-32; Süßmann 2007a, S. 260-304; Süßmann 2007b). Darüber hinaus hatte er es Neumann auch ermöglicht, zu Beginn des Jahres 1723 eine mehrmonatige Reise nach Paris anzutreten, die bereits seit Ende 1720 erwogen worden war und die unter anderem dem Abgleich der Würzburger Residenzplanungen mit den jüngsten französischen Baukonventionen dienen sollte (s. zur Frankreichreise: Hubala/Mayer/ Mülbe 1984, S. 15-28; Hansmann 1986, S. 29-47; Schütz 1986, S. 49f.; Friedrich 2006; Krause 2009). Der unerwartet frühe Tod seines Mentors 1724 musste daher für Neumann eine Zäsur bedeuten. Als Nachfolger des Kirchenfürsten aus dem Hause Schönborn hatte das Würzburger Domkapitel am 2. Oktober 1724 Christoph Franz von Hutten gewählt. Dieser hatte die Bauarbeiten an der Stadtresidenz zwar keineswegs einstellen lassen, sich jedoch auf die Fertigstellung und den Innenausbau des Nordflügels sowie die unumgänglichen Fundamentierungsarbeiten beschränkt. Das Hauptaugenmerk war auf die Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit der Stadt verlegt und Neumann angewiesen worden, die Bastionierung der Marienburg auf den neuesten Stand zu bringen (s. Kummer 2013, S. 33f.). Mit dem 1727 von Kleinert fertiggestellten Porträt wollte Neumann daher wohl nicht nur seinen Stolz über das bisher von ihm im Dienste zweier Würzburger Fürstbischöfe Vollbrachte herausstreichen, sondern auch seinem neuen Dienstherrn bedeuten, dass neben dem Ausbau der Verteidigungsanlagen der Stadt vor allem der Weiterbau des Stadtschlosses zum Prestige des Hochstifts würde beitragen können.
Nach dem Tod von Christoph Franz von Hutten 1729 setzten sich bei der Wahl eines Nachfolgers innerhalb des Domkapitels wieder die Anhänger der Schönbornfamilie durch: Zum Fürstbischof von Würzburg und Bamberg wurde der in Wien residierende, einflussreiche Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn gekürt, ein jüngerer Bruder von Johann Philipp Franz. Friedrich Karl ist bis zu seinem Tod 1746 zu dem wohl wichtigsten Förderer Neumanns geworden: Unter der Regierung Friedrich Karls konnte im Dezember 1744 der Rohbau der Würzburger Residenz abgeschlossen werden (s. zu Neumanns Briefen an seinen neuen Dienstherrn Lohmeyer 1921). Dabei nötigte der Würzburger Fürstbischof seinen Architekten beständig dazu, zahlreiche seiner Bauideen mit denen von Johann Lucas von Hildebrandt zu messen und abzugleichen — dem von Friedrich Karl präferierten Architekten an seiner einstigen Wiener Wirkungsstätte. Diese spannungsreiche Künstlersymbiose, durch die Neumann seine Gestaltungsideen weiter schärfte, ist nicht nur an der bereits erwähnten Schönbornkapelle am Dom zum Tragen gekommen, sondern insbesondere auch an der Residenz:
- Bei der Gestaltung der Hofkirche, die nach langer Planung zwischen 1732 und 1743 in der Südwestecke des Schlosskomplexes errichtet wurde, stellte Neumann in den von Hildebrandt geplanten kastenförmigen Longitudinalbau eine Dreierfolge ineinander verschränkter Ovalrotunden unterschiedlicher Größe ein, wodurch der Raum sowohl eine Zentrierung als auch eine die Raumgrenzen auflösende, variantenreiche Kurvierung erhielt. Hildebrandt setzte allerdings die Aufstockung des Emporengeschosses, von dem aus der Fürstbischof der Messe beiwohnen sollte, durch, und gab damit dem Raum die funktional und ästhetisch angemessene Höhe (s. Reuther 1973, S. 69f.; Schütz 1986, S. 53-55 u. Farbabb. S. 37-39, dem ich hier folge; s. dagegen Rizzi 1976, S. 144-151, der einen stärkeren Anteil Hildebrandts an der Raumkonzeption annimmt). Die Kurvierung der Raumgrenzen mittels der Einstellung sich tangierender Rotunden unter Einbezug der Gewölbezonen — in Weiterentwicklung böhmischer und fränkischer Vorbilder wie etwa Johann Dientzenhofers Klosterkirche Banz — sollte Neumann schließlich in solchen Anlagen wie der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen (1742-44) oder der Benediktinerabtei Neresheim (1747-50) zur vollkommensten Ausprägung bringen (s. Schütz 1986, S. 143-184).
- Auch bei der Außengestaltung der Würzburger Residenz bestand Friedrich Karl auf einer Verschränkung der Gestaltungsvorstellungen der beiden Architekten, Johann Lucas von Hildebrandt und Balthasar Neumann: Die Eingangsfront bekam einen nach den Vorstellungen Hildebrandts plastisch durchgestalteten, dreiachsigen Risalit mit geschweiftem Wappengiebel. Dadurch erhielt der Ehrenhof zwar seinen markanten Zielpunkt, stach aber auch gegenüber der flächigen, die Volumina fest umgrenzenden Wandgestaltung Neumanns an den Schaufronten der Flügelbauten heraus. Denn diese operierten zurückhaltender mit Wandschichtungen und plastischer Ornamentierung (s. Schütz 1986, S. 52f. u. Farbabb. S. 18-20).
- Ähnliches ließe sich an der Gartenseite mit seinem hervortretenden Mittelpavillon feststellen: Auch hier wurden eine plastische Durcharbeitung Wiener Prägung und die Straffung der Wandgestaltung Würzburger Provenienz zur visuell überzeugenden Synthese geführt (s. Schütz 1986, S. 51f. u. Farbabb. S. 21).
Friedrich Karl setzte mit seinem Vorgehen, Neumann zwar mit der Bauführung der Residenz zu betrauen, ihn aber beständig unter Konkurrenzdruck zu setzen, eine Strategie fort, die bereits sein Onkel Lothar Franz — Erzbischof und Kurfürst von Mainz und bis zu seinem Tod 1729 das unbestrittene Oberhaupt des Hauses Schönborn — bis zur Perfektion betrieben hatte: Bereits am Schloss Weißenstein in Pommersfelden — zwischen 1711 und 1718 errichtet — hatte Lothar Franz neben Johann Dientzenhofer Johann Lucas von Hildebrandt mitwirken lassen. Zudem hatte der Kurmainzer Patriarch nicht nur Maximilian von Welsch als Hofarchitekten unter Vertrag, sondern sich mit mehreren beratenden „Kavaliersarchitekten“ umgeben — adligen Hofbediensteten, die auf hohem Niveau in Fragen des Bauwesens dilettierten, darunter Philipp Christoph von Erthal sowie Anselm Franz Ritter zu Groenesteyn. Balthasar Neumann sah sich bereits seit der Ausarbeitung seiner ersten Planung für die Würzburger Residenz im Herbst 1719 dieser vielstimmigen Konkurrenz ausgesetzt, innerhalb derer einen ersten Höhepunkt die Vorlage des sogenannten Ovalreichen Projekts bildete: Noch vor der Grundsteinlegung der Würzburger Residenz am 22. Mai 1720 hatte Maximilian von Welsch im Februar desselben Jahres auf Betreiben seines Mainzer Dienstherrn Lothar Franz einen Erweiterungsvorschlag ausgearbeitet, der die weiteren Gestaltungschritte Neumanns bis über seine Frankreichreise hinaus maßgeblich bestimmen sollte. Neumann hatte zunächst geplant, zwei vierflügelige Trakte im Norden und Süden durch einen zurückversetzten Gebäuderiegel zu einer Gesamtanlage von bereits imposanten Dimensionen miteinander zu verbinden. Nun sah von Welschs Projekt nochmals eine Verdoppelung der beiden Trakte um jeweils einen weiteren, vorgelagerten Binnenhof vor. Dabei sollten die beiden nach Norden bzw. Süden gebenden Außenseiten dieser erweiterten Trakte in ihrer Mitte jeweils durch eine charakteristische ovale Ausbuchtung akzentuiert werden. Damit erhielt die Schlossanlage jene Ausmaße, die noch heute für ihre monumentale Wirkung bestimmend sind (s. Sedlmaier/Pfister 1923, S. 11-25 u. Abb. 11-13; Hubala/Mayer/Mülbe 1984, S. 124-138; Schütz 1986, S. 45-47).
Auch Neumanns Frankreichaufenthalt von Januar bis April 1723, der sowohl von dem amtierenden Würzburger Fürstbischof Johann Philipp Franz als auch von dessen Bruder Friedrich Karl in Wien und vor allem von ihrer beider Onkel Lothar Franz in Mainz ausdrücklich gewünscht wurde, sollte dazu dienen, die fortgeschrittene Residenzplanung dem Urteil führender französischer Spezialisten zu unterziehen. An erster Stelle dachten die Auftraggeber Neumanns dabei an Robert de Cotte, den Ersten königlichen Architekten. Aber während der Reise wurde Neumann in Nancy auch auf Germain Boffrand aufmerksam gemacht, den Hausarchitekt der Lothringer Herzöge, der ihm bereits von Philipp Christoph von Erthal als möglicher Ansprechpartner empfohlen worden war. Von beiden französischen Kollegen wurden schließlich Vorschläge eingeholt, wobei Boffrand sogar Anfang Juli 1724 nach Würzburg und Pommersfelden kam, um beide Anlagen zu besehen und seine Ideen bezüglich der Würzburger Residenz weiter zu entwickeln. Die dabei gegebenen Anregungen lassen sich aus diversen Schriftstücken rekonstruieren: neben Neumanns Briefen aus Frankreich auch der Briefverkehr mit und über Boffrand; ergänzend kommt einiges Planmaterial hinzu (s. dazu ausführlich unter der Rubrik „Zur Quelle“). Von den aus Frankreich eingeholten und aus diesen Dokumenten ersichtlichen Anregungen wurden allerdings nur einige übernommen, andere von Neumann beharrlich zurückgewiesen (s. Sedlmaier/Pfister 1923, S. 32f.; Brunel 1972; Hubala/Mayer/Mülbe 1984, S. 26-28; Fürst 2008, S. 40-43; Krause 2009). Die Hinzuziehung von Germain Boffrand als Gegengewicht zu Robert de Cotte erwies sich dabei als Chance, die Neumann instinktiv zur Durchsetzung seiner Gestaltungsvorstellungen zu nutzen wusste: Indem er gegenüber den Schönborns die Korrekturvorschläge von de Cotte gegen die Boffrands ausspielen konnte, schlug er seine Auftraggeber — so könnte man sagen — mit deren eigenen Waffen! Die jüngere Forschung ist sich einig, dass die besondere Leistung Neumanns gerade darin bestand, über die Jahrzehnte seiner Bautätigkeit an der Würzburger Residenz hinweg flexibel auf die teilweise konträren Gestaltungsvorstellungen und Planungsideen aus Mainz und Wien oder Paris und Lothringen reagiert und diese stets in eine visuell und funktional überzeugende Gesamtkonzeption überführt zu haben, die letztlich seinen Vorstellungen entsprach. „Kollektivistische Methoden der Planung“, wie sie Richard Sedlmaier und Rudolf Pfister annahmen (s. Sedlmaier/Pfister 1923, S. 13), bezeichnen den Planungsvorgang nicht adäquat, da es Neumann letztlich immer wieder gelang, die gestalterische Oberhand zu behalten und den Bau maßgeblich nach seinen Gestaltungsvorstellungen zu prägen (s. Hubala 1984; Hubala/Mayer/Mülbe 1984, S. 33-54; Schütz 1986, S. 45f.; in abgeschwächter Form Kummer 1987, S. 88). Zudem diente die von den unterschiedlichen Mitgliedern des Hauses Schönborn gewünschte und von Neumann mit ihrer Billigung vollzogene Amalgamierung unterschiedlicher Gestaltungsideen von Wien bis Paris gerade dazu, das Würzburger Fürstbistum mittels des Residenzbaus als selbstbewusstes Glied des Reiches darzustellen, zugleich aber auch als verlässliche, starke Stütze des Wiener Kaiserhauses innerhalb eines weitgespannten europäischen höfischen Konkurrenzgeflechts (s. Stephan 2002).
Gegen Ende seines Lebens sollte Balthasar Neumann nochmals erfahren, in welchem Maße die Wertschätzung seiner Dienste beim Wechsel an der Spitze des Würzburger Hochstifts Schwankungen unterlag: Als nach dem Tod Friedrich Karls von Schönborn 1746 Anselm Franz von Ingelheim bis 1749 in der Mainmetropole an die Macht kam, wurde Neumann als Oberbaudirektor entlassen. Seine Entbindung von den Würzburger Dienstverpflichtungen nutzte Neumann, um großangelegte Planungen für den Neubau der Wiener Hofburg (1746 u. 1747) und Pläne für den Neubau des Stuttgarter Stadtschlosses (1747 u. 1748/49) auszuarbeiten, in die seine reiche Erfahrung aus dem Bau der fränkischen Residenz einfloss. Diese Planungen, die natürlich auch der Anbahnung möglicher neuer Anstellungsverhältnisse dienen sollten, blieben aber alle ohne Konsequenzen. Unter dem Nachfolger Ingelheims, Fürstbischof Carl Philipp von Greiffenclau, wurde Neumann in Würzburg wieder in sein altes Amt eingesetzt. Carl Philipp, der bis 1754 regierte, verdankte seinen Aufstieg innerhalb des Erzstiftes Mainz und des Würzburger Domkapitels seinen engen, auch verwandtschaftlichen Verbindungen zum Haus Schönborn: Er sollte daher die Kunstpolitik, die die Schönborns mit dem Bau der Würzburger Residenz betrieben hatten und die auf ihre Stellung zu Kaiser und Reich ausgerichtet gewesen war, zu einem glanzvollen und aussagekräftigen Abschluss bringen, indem er Giovanni Battista Tiepolo 1750 bis 1753 mit der Ausmalung von Neumanns Treppenhausgewölbe betraute. Die monumentale, dreilarmige Treppenanlage, die vom zentralen Vestibül zu den Repräsentationsräumen hinaufführt, war das Glanzstück von Neumanns Residenzplanung. 1735 — als sich die Planungen konkretisierten — hatte Neumann noch erwogen, die Treppenrampen mit einer von unten bis zum oberen Umgang offenen Arkadenreihe zu umstellen, um dem weitläufigen Treppenhaus eine durchlichtete Unbeschwertheit zu geben. Nun wurde jedoch diese Idee — wohl mit Neumanns Zustimmung — partiell aufgegeben und die Treppenrampen wurden oberhalb des Wendepodests bis unterhalb des Umgangs mit einem geschlossenen Mauerzug umgeben. Die dadurch erreichte optische Beruhigung und Verdunkelung der mittleren Zone des Treppenhauses sollten vor allem dem geplanten Fresko Tiepolos eine besser Sichtbarkeit beim Aufstieg gewähren und es noch deutlicher als visuellen Zielpunkt der Anlage inszenieren (s. Stephan 2002, Bd. I, S. 340; Hegener 2016, S. 63f.; Karlsen 2016, S. 278-319). Bereits bei seinen Treppenhausschöpfungen im speyrischen Residenzschloss St. Damiansburg in Bruchsal (1728-31) und im Schloss Augustusburg in Brühl bei Bonn (1740-46) hatte Neumann den Aufgang als Abfolge von engeren, dunkleren und breiteren, durchlichteteren Zonen konzipiert und die Gewölbezone als Schlussakkord der Gesamtwirkung vorgesehen. Im Würzburger Treppenhaus kehrt sich nach Erreichen des Wendepodestes die Wegrichtung um und der Blick des aufsteigenden Besuchers richtet sich zwangsläufig nach oben auf das Deckenfresko. Dort präsentierte sich der amtierende Fürstbischof in einem zum Himmel emporgetragenen Medaillon als Stütze der kaiserlichen Sonne in der Mitte des Bildfeldes, personifiziert durch Apoll, der als Friedensbringer die vier Kontinente erleuchtet, welche am umlaufenden Gewölbeansatz dargestellt sind. Tiepolo setzte dabei einen maßvollen Bildwitz ein, nicht zuletzt wenn er zu Füßen der auf ihrem Stier thronenden Europa den lässig hingelagerten Baumeister Balthasar Neumann darstellte, an dem neugierig ein Windhund — der hauptsächlich zur Jagd eingesetzt wurde — schnuppert: Die Jagd war ein adliges Privileg, Neumann aber — obwohl verdienter Militär und Baumeister — von seinen Dienstherrn nicht in den Adelstand erhoben worden. So adelte Tiepolo wie beiläufig den von ihm geschätzten Baumeister auf seinem Fresko (s. Bognár 2018, S. 212f.; Reinhard 2019, S. 446f.).
Zur Quelle
Von Balthasar Neumann hat sich die umfangreichste schriftliche und bildliche Hinterlassenschaft eines deutschen Künstlers der Vormoderne erhalten — neben den Zeugnissen und Materialien von Albrecht Dürer und Karl Friedrich Schinkel (s. Satzinger 2016a). Der noch erhaltene Bestand an Plänen und Zeichnungen aus seinem Besitz umfasst an die 700 Blatt, die sich in der Mehrzahl im Würzburger Museum für Franken — Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte und in der Universitätsbibliothek Würzburg sowie in der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin befinden (s. Hotz 1981, Bd. I, S. 9) — eingerechnet die 80 Blatt, die Georg Satzinger (Kunsthistorisches Institut der Universität Bonn) jüngst in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien entdeckt hat und ediert (s. Satzinger 1992 u. 2016a u. b zu dessen langjährigen Beschäftigung mit Neumann; s. auch weiter unten unter der Rubrik „Forschungsstand“).
Zu einem Kernstück der schriftlichen Äußerungen des fränkischen Architekten gehören die 19 erhaltenen Briefe, die dieser auf seiner Reise nach Frankreich zwischen dem 11. Januar und dem 14. April 1723 an seinen Dienstherrn, den Fürstbischof von Würzburg Johann Philipp Franz von Schönborn, gerichtet hat. Die hier erstmals mit den dazugehörigen Beilagen und Handzeichnungen als Digitalisate zugänglich gemachten Briefe Neumanns liegen im Staatsarchiv Würzburg unter der Signatur „Bausachen 355/I“, fol. 35-98. Das Briefkonvolut stellt einen geschlossenen Bestand dar, der seit alters in den fürstbischöflichen Archiven verwahrt worden ist. Die etwaigen Antwortschreiben und Anweisungen des Fürstbischofs, die Neumann während seiner Reise nachgesandt worden sind, haben sich allerdings nicht erhalten.
Die Foliozählung des Archivs ist meist unten mittig auf der Vorderseite eines jeden Blattes aufgestempelt. In hiesiger Ausgabe wurden allerdings die Beilagen und Anhänge aus Gründen einer klareren Zuordnung jeweils an das Ende des betreffenden Briefs angefügt. Dadurch durchbricht bei folgenden, wenigen Fällen unsere Anordnung der insgesamt 103 digitalen Ansichten die fortlaufende Folienzählung innerhalb des Konvoluts:
- Am Ende des Briefs vom 15. Februar 1723, fol. 52v, sind die zwei ersten Kutschenzeichnungen auf der Vorder- und Rückseite von fol. 56 hinzugefügt.
- Am Ende des Briefs vom 17. Februar 1723, fol. 54v, ist die weitere Kutschenzeichnung, fol. 57r, eingefügt, deren leere Rückseite nicht abgebildet wird.
- An das Ende des Briefs vom 1. März 1723, fol. 69v, ist das Empfehlungsschreiben des Barons Karl von Pfütschner für Valentin Jamerey-Duval angefügt, das jener über Neumann an Johann Philipp Franz von Schönborn schickte (fol. 67r-68v) (s. zu Jamerey-Duval jüngst Lüsebrink 2016).
- Am Ende des Briefs vom 29. März 1723, fol. 86v, ist die Liste der getätigten Ausgaben und Einkäufe zu finden (fol. 55r-v).
In diesem Zusammenhang sei noch auf ein Briefdokument des Konvoluts hingewiesen, das nicht in die vorliegende Edition mit aufgenommen wurde: Zwischen Neumanns Briefen vom 17. und 24. Februar ist ein auf Italienisch verfasstes Schreiben eingefügt (fol. 59r-61v). Es ist auf den 23. Februar 1723 datiert und aus Würzburg an Don Bartolomeo Mariconi — den Generalkonsul des Kaisers in Genua — gerichtet. Verfasst ist es von Henry Davenant, zwischen 1715 und 1723 britischer Gesandter in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main. Davenant bittet Mariconi in diesem Brief, dem Würzburger Fürstbischof dabei behilflich zu sein, in Italien Kontakt mit geeigneten Personen herzustellen, die u. a. bei der Beschaffung von Marmor dienlich sein könnten, wie den Genueser Bildhauer Giovanni Baratta. Davenant war mit den diplomatischen Kollegen in Italien — darunter auch Mariconi — aufgrund seiner mehrjährigen Tätigkeit als britischer Gesandter in Florenz, Parma, Modena und vor allem Genua bestens vernetzt. Denn parallel zu seiner Gesandtentätigkeit in Frankfurt war Davenant ebenfalls an diesen Regierungssitzen akkreditiert, in Genua mit Unterbrechungen zwischen 1716 und 1721 (s. Bittner/Groß/Latzke 1936, S. 182, 186, 191, 194 u. 203; Groß/Hausmann/Kotasek et al. 1950, S. 148, 151, 154, 158 u. 167). Es bleibt allerdings unklar, wie das Empfehlungsschreiben Davenants in die Korrespondenz Neumanns aus Paris an seinen Herrn, den Würzburger Fürstbischof Johann Philipp Franz von Schönborn, gelangt ist, zumal Neumann Davenant ansonsten nicht in seinen Briefen erwähnt. Neumann deutet lediglich in seinem Brief von 7. Februar 1723 aus Paris an, dass er Informationen zu den besten Genueser Steinbrüchen einholen wolle, die weißen Marmor liefern. Es könnte sein, dass der britische Gesandte Neumann sein Empfehlungsschreiben in Paris bei einer seiner Durchreisen nach London übergeben hat, selbst wenn darauf Würzburg als Absendeort angegeben ist. Allerdings leitete Johann Philipp Franz offensichtlich das Schreiben nicht an Mariconi in Genua weiter, machte also davon keinen Gebrauch. Aufgrund der ungeklärten Zuordnung des Schreibens wurde es nicht in die hiesige Edition integriert.
Neumann verwendete zwei unterschiedlich große Briefbögen, deren Größe (jeweils Höhe x Breite) zwischen 22,5 x 17 cm (z. B. fol. 46-47) und 35,5 x 23 cm (z. B. fol. 50-52) variiert. Die in Bleistift und Feder angefertigten drei Kutschenzeichnungen haben folgende Maße (jeweils Höhe x Breite): 19,5 x 35 cm (fol. 56r u. v) und 19,5 x 37 cm (fol. 57r). Die Briefe sind in Tinte auf Papier in deutscher Kurrentschrift geschrieben; einzelne fremdsprachige Ausdrücke werden allerdings in lateinischen Buchstaben wiedergegeben. Auf einigen wenigen beigefügten Einzelblättern finden sich Bleistiftskizzen, teilweise flüchtig hingeworfen (fol. 37r u. v), teilweise etwas aufwendiger mit Beschriftungen (fol. 44r u. v). Die Blätter tragen von anderer Hand (wohl der eines Archivars) Aufschriften in Bleistift, wie etwa Foliozählungen oder Beilagenangaben („ad“ für „addendum“ usw.); diese wurden bei der Transkription und der Kodierung soweit wie möglich berücksichtigt.
In den Briefen gibt Balthasar Neumann Rechenschaft von seiner Anreise über Mannheim (5.-12. Januar 1723), Philippsburg (12. Januar), Bruchsal (13./14. Januar), Kehl (15. Januar), Straßburg (15.-18. Januar), Zabern (18. Januar), Lunéville (19. Januar) und Nancy (20. bis wahrscheinlich 23. Januar) nach Paris (Ankunft Ende Januar) (s. zum Reiseverlauf die interaktive Europakarte). Die Stationen werden zur genauen Begutachtung der teilweise in Bau befindlichen einschlägigen Schlossanlagen genutzt. Am Zielort angekommen, sucht Neumann — wie ihm aufgetragen — in Versailles den Rat des Ersten königlichen Architekten Robert de Cotte, um ihm den gegenwärtigen Planungsstand zur Würzburger Residenz zu erläutern, nimmt aber auch schon bald Kontakt zum Architekten Germain Boffrand auf, der ihm von Herzog Leopold Joseph von Lothringen empfohlen worden war. Boffrand leitete seit 1711 den Ausbau der lothringischen Nebenresidenz Lunéville zu einer repräsentativen Schlossanlage (s. Tronquart 1991; Friedrich 2006, S. 59); 1724 wird er sogar eine Reise nach Franken unternehmen (s. dazu die zahlreichen Schriftzeugnisse in Freeden 1955, zwischen S. 917 u. 1091, u. in Auszügen in französischer Übersetzung in Krause 2009). Neumanns Briefe drehen sich aber nicht nur um das Würzburger Bauvorhaben im Spiegel seiner Gespräche mit den beiden französischen Architektenkollegen. Vielmehr belegen sie, dass die Entsendung des Architekten auch anderen Zwecken diente (s. Hotz 1981, Bd. I, S. 20):
- der Anwerbung französischer Kunsthandwerker (Teppichweber, Vergolder, Schreiner, Schlosser und sogar Bildhauer);
- dem Einkauf zahlreicher Gegenstände des gehobenen höfischen Bedarfs (darunter drei Kutschen und mehrere Kutschengeschirre);
- sowie dem Erwerb von kunsthandwerklich hochwertigen Stücken, die als Modelle und Muster für die heimische Fertigung fungieren sollten (etwa Spiegel, Tischkreuze oder Kaminfüße).
Da Neumanns Kutschenankäufe im Auftrag von Johann Philipp Franz von Schönborn einen hohen Stellenwert in seinen Briefen einnehmen und er offensichtlich darauf viel Zeit verwendet hat, verlohnt — unter Verwendung der fundierten, realkundlichen Untersuchungen von Rudolf H. Wackernagel — ein kurzer Exkurs zu diesem Themenkomplex (s. Wackernagel 1982 u. 2002):
- In seinem Brief von 15. Februar erwähnt Neumann eine Berline bzw. einen Stadtwagen, der alternativ zu einem Berline-Coupé für 2 Personen umgewandelt werden kann. Dem Brief fügt er — wie oben bereits aufgeführt — zwei Zeichnungen auf der Vorder- und Rückseite von fol. 56 bei. Die Maße gibt er in Würzburger Schuh (entspricht 20,2 cm) und Zoll (entspricht 1,8 cm) an. Aufgrund seiner genauen Maßangaben ergibt sich eine Gesamtlänge der Kutsche von 3,43 m bei einer Gesamthöhe von 1,26 m; die Räder messen im Durchmesser 54,8 cm vorne bzw. 122 cm hinten. Eine solche Kutsche wird aber schließlich nicht angekauft; vielmehr ist anzunehmen, dass die summarische zeichnerische Erfassung mitsamt der Maßangaben als Skizze für den eventuellen Nachbau durch fränkische Kutschenbauer dienen sollte.
- In seinem darauffolgenden Brief vom 17. Februar beschreibt Neumann ausführlich drei von vier zum Verkauf stehende Staatskutschen aus dem Besitz des ehemaligen außerordentlichen Botschafters Spaniens in Frankreich, José Maria Téllez-Girón, Herzog von Osuna, der zwischen dem 29. Oktober 1721 und dem 24. März 1722 am französischen Hof akkreditiert war (s. Groß/Hausmann/Kotasek et al. 1950, S. 386). Bei der dritten Zeichnung auf der Vorderseite von fol. 57 handelt es sich um eine dieser modernen Pariser Staatskutschen. Wieder macht Neumann zahlreiche Maßangaben: So wird z. B. der Achsenabstand mit 14 Schuh und 4 Zoll angegeben (also 3,75 m).
- Schließlich werden diese drei Kutschen von Neumann am 16. März zusammen mit insgesamt 10 Geschirren für 19.000 Livres angekauft. Am 26. März wird das Ganze von Paris nach Straßburg abgeschickt und dann mit dem Schiff bis nach Mainz transportiert.
Seine zahlreichen dienstlichen Aufenthalte in Versailles nutzte Neumann, um dort das Schloss, die Gartenanlagen, aber auch das nahegelegene Lustschloss Marly und vor allem die Pumpanlage an der Seine — die sog. Machine de Marly — zu besehen, die von den meisten Reisenden ebenfalls als Wunderwerk der Wasserbautechnik bestaunt wurde (s. Pitzler, Harrach, Corfey, Sturm u. Knesebeck in hiesiger Edition). In der Île-de-France sah er sich die zahlreichen Schlösser und Lusthäuser an, nachweislich Saint-Cloud, Meudon, Issy und Fontainebleau. In Paris wurden unter anderem Hôtels particuliers und das Palais Royal beschaut. Selbst wenn die Briefe des fränkischen Architekten kaum Hinweise enthalten, wie er über die französische Architektur urteilte, so finden sich darin doch vereinzelt Passagen, die Einsichten in Neumanns Kunstauffassung bieten, etwa bezüglich der neuesten Mode der französischen Innenraumgestaltung (s. dazu ausführlich unter der Rubrik „Highlights auf einen Klick“).
Seine Rückreise aus Paris trat Neumann am 15. April 1723 an und reiste über Cambrai, Tournay, Brüssel, Schupbach, Wetzlar und Frankfurt a. M. nach Würzburg zurück (s. zum Reiseverlauf die interaktive Europakarte). Wie an einigen Stellen seiner zuvor an seinen Dienstherrn gesandten Briefe anklingt, hätte er wohl gerne einen Abstecher nach Amsterdam und sogar nach England gemacht, was ihm Johann Philipp Franz von Schönborn jedoch nicht gestattete. Allerdings hatte Neumann am 13. April noch die nach der Winterpause wieder in Betrieb genommenen Wasserspiele im Garten von Versailles bewundern können, was ihn sichtlich erfreut hat; zudem beeilte er sich, noch kurz vor seiner Abreise am 14. April zum dritten Mal die Machine de Marly zu studieren.
Von der kunsthistorischen Forschung sind Balthasar Neumanns Briefe seiner Frankreich-Reise 1723 seit langem als aussagekräftige Quelle erkannt und herangezogen worden (s. Keller 1895, S. 12-14; Keller 1896, S. 8-10 u. 57-59). Eine erste, weitgehend vollständige Edition legte Lohmeyer 1911 vor (s. Lohmeyer 1911); zehn Jahre später gab dieser auch die erhaltenen Briefe Neumanns an Friedrich Karl von Schönborn heraus, der zwischen 1729 und 1746 die Geschicke des Würzburger Hochstifts bestimmte (s. Lohmeyer 1921). Die Transkriptionen all dieser Briefe und vieler weiterer damit im Zusammenhang stehender Schriftstücke, die Max von Freeden in seine umfangreiche Sammlung Quellen zur Geschichte des Barocks in Franken unter dem Einfluss des Hauses Schönborn integriert hat, bilden ein weiteres Referenzwerk (s. Freeden 1955). Die hiesige Edition stützt sich auf diese Vorarbeiten, wobei die Transkriptionen Lohmeyers und Freedens an den Originaldokumenten kontrolliert, korrigiert und umfassend ergänzt wurden. Die zahlreichen Beschriftungen der Kutschenzeichnungen (fol. 56r, v u. 57r) sind beigefügt: In der Quellensammlung Freedens sind diese nur partiell transkribiert; erst Hotz liefert davon eine erste vollständige Transkription (s. Hotz 1981, Bd. I, S. 21f., Anm. 64). Ansonsten werden diese Beischriften sowohl in der älteren als auch in der neueren Literatur nur auszugsweise zitiert (s. vor allem Hirsch 1912, S. 32f.; Wackernagel 2002, S. 284f.). Alle Briefe mit ihren Anhängen und die Beschriftungen der Zeichnungen werden in hiesiger Ausgabe zudem erstmals in französischer Übersetzung vorgelegt und zugänglich gemacht (für einzelne Auszüge in französischer Übersetzung s. Krause 2009). Die Übersetzung in ein modernes, lesefreundliches Französisch soll vor allem den Zugang zu den Briefen erleichtern: Da manche Briefstellen, nicht zuletzt aufgrund der eigenwilligen Rechtschreibung Neumanns, in ihrem Sinn nur schwer zu ergründen sind, stellen die Übersetzungen solcher Passagen lediglich Interpretationsvorschläge dar. Die folgende Konkordanz hilft, die einzelnen Briefe in den älteren gedruckten Ausgaben wiederzufinden:
Briefe (stets 1723) | Lohmeyer 1911 | Freeden 1955 | Krause 2009 | ARCHITRAVE (Ansichten) | |
---|---|---|---|---|---|
1 | 11. Januar | S. 5-7 | Nr. 1017, S. 769-771 | 1-7 | |
2 | 17. Januar | S. 8-10 | Nr. 1022, S. 774-777 | 8-14 | |
3 | 21. Januar | S. 10-12 | Nr. 1023, S. 777-779 | S. 190-191 | 15-19 |
4 | 7. Februar | S. 12-14 | Nr. 1026, S. 780-783 | S. 192 | 20-27 |
5 | 15. Februar | S. 14-17 | Nr. 1029, S. 784-787 | S. 193-194 u. 197 | 28-35 |
6 | 17. Februar | S. 17-19 | Nr. 1032, S. 789-791 | 36-40 | |
7 | 24. Februar | S. 19 | Nr. 1034, S. 791-792 | 41-42 | |
8 | 1. März | S. 19-21 u. S. 55, Anm. 54 | Nr. 1036, S. 793-795 u. S. 794, Anm. 1 | S. 201-202 | 43-50 |
9 | 8. März | S. 21-24 | Nr. 1037, S. 795-798 | S. 194-195 | 51-56 |
10 | 10. März | S. 24-27 | Nr. 1038, S. 799-801 | S. 196 | 57-61 |
11 | 15. März | S. 27-29 | Nr. 1039, S. 802-804 | S. 197 | 62-66 |
12 | 16. März | S. 29f. | Nr. 1040, S. 804-805 | 67-69 | |
13 | 22. März | S. 30-32 | Nr. 1041, S. 805-807 | S. 197 | 70-73 |
14 | 24. März | S. 32-34 | Nr. 1042, S. 807-809 | 74-76 | |
15 | 29. März | S. 34-35 | Nr. 1044, S. 810-813 | 77-82 | |
16 | 3. April | S. 35-39 | Nr. 1046, S. 813-818 | 83-90 | |
17 | 7. April | S. 40-42 | Nr. 1052, S. 821-824 | 91-95 | |
18 | 12. April | S. 42-44 | Nr. 1055, S. 826-828 | 96-100 | |
19 | 14. April | S. 44f. | Nr. 1057, S. 828-829 | 101-103 |
Ergänzend zu den vorgenannten Schriftstücken tritt folgendes Planmaterial, das eine gewisse Einsicht in die von den beiden konsultierten französischen Kollegen, Robert de Cotte und Germain Boffrand, gemachten Vorschläge erlaubt:
-
Im Nachlass von Robert de Cotte haben sich vier Grundrisse erhalten, die offenbar von Neumann gezeichnet worden sind. In diese sind die Verbesserungsvorschläge des „Premier architecte du Roi“ teils mit schnellem, skizzenhaftem Strich eingetragen worden, teils bereits in sauberer (etwas summarischer) Linienführung ins Reine übertragen: Paris, Bibliothèque nationale de France, Estampes et photographie, RESERVE HA-18 (C, 16)-FT 6, Nr. 1193, 1194, 1195 u. 1196; s. Fossier 1997, S. 658f., Abschnitt 359, Nr. 1193-1196.
-
Zudem haben sich zur Gartenfront der Würzburger Residenz zwei Aufrissentwürfe von Robert de Cotte (bzw. seiner Agence) erhalten. Sie divergieren hauptsächlich hinsichtlich der Anzahl der Achsen der Seitenpavillons: (1) Berlin, Staatliche Museen — Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek, HdZ 4682; s. Krause 2009, S. 196, Abb. 50; (2) Paris, Bibliothèque nationale de France, Estampes et photographie, RESERVE HA-18 (C, 16)-FT 6, Nr. 1197; s. Sedlmaier/Pfister 1923, S. 30, Abb. 30; Fossier 1997, S. 658f., Abschnitt 359, Nr. 1197.
-
Germain Boffrands Ideen bezüglich der Würzburger Residenz lassen sich anhand seiner Idealplanungen nachvollziehen, die er in seinem Livre d’Architecture noch Jahrzehnte nach seiner Reise nach Franken publizierte: Boffrand 1745, S. 91-96, Tf. LV-LX.
-
Zusätzlich hat sich von Boffrand noch ein Aufriss der Gartenfront der Würzburger Residenz erhalten, der von dem im Livre d’Architecture publizierten vor allem dadurch abweicht, dass er die von Neumann gewünschten Zwischengeschosse noch stärker berücksichtigt: Berlin, Staatliche Museen — Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek, HdZ 4683; s. Krause 2009, S. 198, Abb. 53.
Wie bereits weiter oben angedeutet, hat es Neumann verstanden, die von seinen namhaften französischen Kollegen unterbreiteten Korrektur- und Verbesserungsvorschläge dazu zu nutzen, einzelne Impulse daraus aufzunehmen, die meisten aber abzublocken, wobei er gegenüber seinen Auftraggebern, den Schönborns, geschickt die Vorschläge von Robert de Cotte gegen die von Germain Boffrand auszuspielen verstand, um seine eigenen Gestaltungsideen durchzusetzen:
- Die wohl weitreichendste Neuerung, die auf Neumanns Frankreichaufenthalt zurückzuführen ist, bestand darin, im zentralen Gebäudetrakt keine zwei spiegelbildlich vom Vestibül aus hinaufführenden Treppenanlagen mehr zu planen, sondern sich — gemäß dem Vorschlag von de Cotte — auf ein einziges Stiegenhaus zu beschränken. Auch der Vorschlag, den Treppenaufgang unten wie oben mit Umgängen zu umgeben — wie es Neumann bereits in Schloss Zabern gesehen hatte und wie es ihm von de Cotte in die oben aufgeführten, erhaltenen Grundrisse eingezeichnet wurde —, ist in Würzburg umgesetzt worden (s. Karlsen 2016, S. 280).
- Allerdings wurde die Platzierung der Schlosskapelle an der ursprünglich für das zweite Treppenhaus vorgesehenen Stelle, wie es de Cotte wünschte, von Neumann vehement zurückgewiesen: Den Hinweis de Cottes, die Kapelle dürfe nicht zu weit von der Mitte des Baues abliegen, wehrte Neumann geschickt mit dem Verweis auf die Lage der neuen Versailler Schlosskirche zurück, die dort ebenfalls abseits der Privatgemächer des Königs zwischen zentralem Corps de logis und Nordflügel lag. Schließlich wurde in der Würzburger Residenz die Hofkirche in der äußersten Ecke des Südflügels untergebracht. Hierbei dürfte Boffrands Idee, die Kapelle im Querriegel zwischen den beiden Höfen des Südflügels unterzubringen, als wichtiger planerischer Zwischenschritt gedient haben (s. Boffrand 1745, S. 92 u. Tf. LV).
- In Würzburg beharrte man aus funktionalen Gründen auf einem vierteiligen Wandaufriss mit jeweils über den Hauptgeschossen eingezogenen Mezzaningeschossen, die von den Franzosen als „zu italienisch“ gescholten wurden. Da die Würzburger Residenz jedoch auch die Verwaltungsinstanzen des Hochstifts beherbergen sollte, mussten genügend Räume zur Verfügung stehen. Daher wurde lediglich an den drei Ehrenhofseiten und an der Fassade des Mittelpavillons zum Garten die Viergeschossigkeit zugunsten einer Dreigeschossigkeit aufgegeben bzw. die Zwischengeschosse teilweise optisch kaschiert. Auch hier zeigte sich Boffrand kompromissbereiter als sein Versailler Kollege und schlug Aufrisslösungen vor, die es Neumann gestatteten, seine Vorstellungen nie in Gänze aufgeben zu müssen.
- Die Reduzierung der hinteren Binnenhöfe (des hinteren Nord- bzw. Südhofs) zugunsten einer den Anforderungen der Commodité genügenden, kleinteiligeren Disposition der fürstbischöflichen Prunk- und Privatgemächer — wie sie von de Cotte an den von Neumann angefertigten Plänen der Residenz vorgenommen wurde — traf bei Neumann auf völliges Unverständnis (s. Hansmann 1986, S. 40): Denn Neumann wollte die Binnenhöfe für die Zirkulation der Bewohner und zahlreichen Hofbediensteten sowie für die Warenanlieferung (etwa Wein und Feuerholz) frei halten. Erneut war es Boffrand, der seine Planungen an den von seinem jungen fränkischen Kollegen gewünschten basalen Funktionalitäten des gesamten Residenzkomplexes ausrichtete und die hinteren Binnenhöfe in entsprechender Größe und in axialer Ausrichtung auf die beiden vorderen Binnenhöfe beließ (s. Boffrand 1745, S. 92 u. Tf. LV).
Der Anteil an französischen Gestaltungsideen am schließlich realisierten Bau wird in der Forschung durchaus unterschiedlich bewertet; doch besteht in der jüngeren Forschung Einigkeit darüber, dass Neumann letztlich federführend blieb und die diversen Anregungen und Planungsideen von anderer Hand in ein funktional und ästhetisch schlüssiges Gesamtkonzept überführte (s. Sedlmaier/Pfister 1923, S. 32f.; Hubala/Mayer/Mülbe 1984, S. 26-28; Brunel 1972; Fürst 2008, S. 40-43; Krause 2009).
Abschließend sei angemerkt, dass die Reise von Balthasar Neumann zu einer Zeit stattfand, als die französische Diplomatie weitgehend das Interesse an einer zielgerichteten Deutschlandpolitik verloren hatte. Unter Kardinal Guillaume Dubois, dem „Premier ministre“ des Regenten, kam es ab 1718 zu einer Abwendung von der unter Ludwig XIV. bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekriegs aufrechterhaltenen feindlichen Einstellung gegenüber Habsburg: Der Kaiser wurde nicht mehr als der Hauptgegner Frankreichs erachtet, da Großbritannien zum wichtigsten außenpolitischen Bezugspunkt avancierte. Eine Eindämmung des kaiserlichen Führungsanspruchs innerhalb des Heiligen Römischen Reichs wurde daher auch nicht mehr offensiv von französischer Seite betrieben (s. Ulbert 2004, S. 60 u. 373). Die kaisertreue Haltung der Schönborns, die zum antifranzösischen Lager innerhalb des Reiches zählten, wurde ihnen offenbar nicht mehr zur Last gelegt. Jedenfalls verhinderte sie nicht die wohlwollende, entgegenkommende Aufnahme ihres Hausarchitekten Balthasar Neumann.
Forschungsstand
Prägnant hat Erich Hubala die ältere Forschungsgeschichte zu Balthasar Neumann und speziell seiner Tätigkeit als leitender Architekt der Würzburger Residenz vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre zusammengestellt und bewertet (s. Hubala/Mayer/Mülbe 1984, S. 33-54). Hubala unterscheidet mehrere Phasen, in denen es jeweils zu einer unterschiedlichen Gewichtung von Neumanns Anteil an Planung und Realisierung des Würzburger Baus gekommen ist:
- Zwar wurde bereits von Cornelius Gurlitt die stilistische Nähe Balthasar Neumanns zu Johann Lucas von Hildebrandt gesehen (s. Gurlitt 1889, S. 338-348, bes. S. 340f.) und von Ph. Joseph Keller die Bedeutung der Schönborns als Bauherrn für die Gestaltung der Würzburger Residenz erkannt (s. Keller 1895, S. 19-21; Keller 1896, S. 63 u. 65). Doch galt beiden Autoren der fränkische Architekt letztlich als das maßgebliche Genie, auf das die Planungen des Schlossbaus zurückzuführen waren.
- Die Erkenntnis, dass auch andere Architekten — neben Hildebrandt in Wien vor allem Maximilian von Welsch aus Mainz — sowie die Schönborns als Auftraggeber maßgeblichen Einfluss auf die Residenzplanungen genommen hatten, setzte sich erst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg allgemein durch (s. Lohmeyer 1911; Hirsch 1912; Mader 1915; Eckert 1917). In der umfangreichen monografischen Studie, die Richard Sedlmaier und Rudolf Pfister 1923 zum Würzburger Residenzbau vorlegten, wurde schließlich der schöpferische Anteil Neumanns derart minimiert, dass er nur noch als ein Bauverwalter erschien, der die verschiedenen Vorschläge zusammenzuführen und umzusetzen hatte.
- Die Revision dieser These erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg und erreichte ihren Höhepunkt mit den verschiedenen Publikationen, die im Umfeld des Jubiläums zum 300jährigen Geburtstag von Balthasar Neumann 1987 erschienen (s. Hubala/Mayer/Mülbe 1984; Hansmann 1986; Schütz 1986): Es sei falsch, davon auszugehen, dass jemals ein „Architektenkollektiv“ die Planungen vorangetrieben habe; vielmehr habe die Schlussredaktion aller einlaufenden Ideen von Beginn an in Neumanns Händen gelegen. In der Überführung dieser meist heterogenen auswärtigen Anregungen zu einem gestalteten Ganzen läge das besondere Verdienst des fürstbischöflichen Baumeisters.
Nach ihrem jubiläumsbedingten Höhenflug in den späten 1980er Jahren hat die Neumann-Forschung zunächst einen deutlichen Rückgang erlebt. Gesamtdarstellungen wurden seitdem nicht mehr unternommen, sieht man von den Neuauflagen von 1999 und 2003 der fundierten und zudem anschaulich geschriebenen Monografie Wilfried Hausmanns aus dem Jahr 1986 einmal ab (s. Verweise bei Hausmann 1986). Dafür sind in den letzten beiden Jahrzehnten wieder vermehrt Detailstudien erschienen, die Teilaspekte von Werk und Wirken des fränkischen Architekten beleuchten und dabei vor allem Fragen nach der Wissenszirkulation, dem europäischen Kulturtransfer sowie den herrschenden politischen Rahmenbedingungen stellen, die Neumanns Schaffen bestimmten. Einige Beispiele müssen genügen:
- Kremeier hat sich mit der Zusammensetzung von Neumanns Bibliothek befasst, die dessen Sohn geerbt hatte, bevor sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts versteigert wurde (s. Kremeier 2015). Auch Friedrich hat sich im Rahmen ihrer Studie zu Neumanns Reise nach Paris die Frage vorgelegt, welche einschlägigen Reiseführer er benutzt haben könnte und dabei die Vermutung geäußert, er könnte die praktische Handreichung von Johann Christoph Nemeitz verwendet haben, die in einer ersten Auflage 1718 unter dem Titel Séjour de Paris, oder getreue Anleitung, welchergestalt Reisende von Condition sich zu verhalten haben, wenn sie ihre Zeit und Geld nützlich und wohl zu Paris anwenden wollen [...] herausgekommen war und schnell zahlreiche Neuauflagen und unerlaubte Nachdrucke erfuhr (s. Nemeitz 1718; Nemeitz 1727): Neumann habe nämlich, so Friedrich, bestimmte Orte in der von Nemeitz angegebenen Reihenfolge besucht. Kremier hat allerdings zu bedenken gegeben, dass sich besagter Führer nicht im Nachlass befand, als dieser versteigert wurde — wohl aber der bekannte Paris-Reiseführer von Germain Brice in der 6. Aufl. von 1713 (s. Friedrich 2006, S. 51; Kremeier 2015, S. 208).
- Das mögliche Ausmaß eines Transfers von französischen Bauvorstellungen aufgrund der Frankreichreise haben jüngst nochmals Fürst und Krause auszuloten versucht (s. Fürst 2008; Krause 2009). Friedrich hat in ihrer umfassenden Studie zur Innendekoration der Würzburger Residenz unter anderem darauf hingewiesen, dass der sich in den Prunkgemächern ab Sommer 1740 vollziehende Wandel der Ornamentsprache vom Régence-Stil zum Rokoko — mit Billigung Neumanns — nur durch eine intensive Auseinandersetzung mit neuesten französischen Entwicklungen erklärbar ist. Sie konnte nachweisen, dass dies zum einen unmittelbar durch die zeitweilige Mitarbeit des französischen Bildhauers Jean-Gaspard Callion in der Würzburger Werkstadt des Ornamentschnitzers Ferdinand Hundt geschah, zum anderen mittelbar durch die Rezeption verschiedener druckgrafischer Serien des französischen Ornamentstechers Jacques de Lajoüe. In Würzburg bildete daraufhin auch der Stukkator Antonio Bossi den Muschelsaum seiner Rocaillen deutlicher aus (s. Friedrich 2004, S. 214f. u. 453).
- Die politisch-ikonologischen Dimensionen der Freskenausstattung der Würzburger Residenz hat Stephan erstmals umfassend untersucht und dabei eine Positionsbestimmung der Schönborns als Anführer der kaisertreuen Reichspartei innerhalb des Reichsverbands deutlich herausgestellt (Stephan 2002). Süßmann hat in seiner Habilitationsschrift und einem weiterführenden Aufsatz überzeugend darstellen können, wie Johann Philipp Franz von Schönborn mit seiner reglementierenden Baupolitik auf nichts weniger als einen Abbau von ständischen Privilegien und einer Stärkung seines (absolutistischen) Machtzugriffs auf die Untertanen abzielte, nicht zuletzt auch durch die Stärkung einer effizienten Bauadministration, zu der ihm Neumann willig die Hand lieh (s. Süßmann 2007a u. 2007b). Bognár hat jüngst das Arbeitsverhältnis zwischen Neumann und seinen Dienstherrn aus dem Haus Schönborn nochmals kritisch hinterfragt, wobei sie — in Zuspitzung der Auffassung Süßmanns, aber auch Kummers (s. Kummer 2009) — aufzeigt, in welchem Maße die Schönborns Neumann lediglich als einen fähigen Bedienten zur Umsetzung ihrer Vorhaben verstanden und entsprechend behandelten (s. Bognár 2018, S. 202, Anm. 18; allg. zur Unterordnung des frühneuzeitlichen Architekten unter seine Bauherren Erben 2012, S. 117).
Schließlich sei noch auf zwei im Abschluss befindliche, umfangreiche Forschungsprojekte zu Balthasar Neumann hingewiesen: Georg Satzinger (Universität Bonn) wird — wie bereits angedeutet — demnächst seine Edition „Residenzschlösser in verschiedenen Städten des südlichen Teutschlands“. Ein Konvolut aus Balthasar Neumanns zeichnerischem Nachlass in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien vorlegen. Damit werden die planerischen und zeichnerischen Leistungen Neumanns, aber auch seine künstlerischen Bezugspunkte und Referenzen, nochmals genauer erfassbar werden. Stefan Kummer (Julius-Maximilians-Universität Würzburg) arbeitet im Rahmung seines Vorhabens Die Genese der Würzburger Residenz und ihrer Ausstattung von 1719-1779 seit langem an einer Revision der Planungs- und Baugeschichte der Würzburger Residenz.
Highlights auf einen Klick
In seinem Brief vom 17. Januar 1723 beschreibt Neumann einen Basküleverschluss, mit dem mehrere Schubstangen gleichzeitig bequem über einen zentralen Drehgriff in Gang gesetzt werden konnten. Dieses System zum Verschließen von Fenstern und Türen war am Ausgang des 17. Jahrhunderts entwickelt worden. Offenbar kennt es Neumann noch nicht.
Im Elsass, an der Grenze zu Lothringen, besucht Neumann die Schlossanlage von Zabern, der er eine ausführliche Beschreibung mit zwei beigefügten Lageskizzen widmet. Gegen Ende desselben Briefs aus Nancy vom 21. Januar 1723 geht er noch, wenn auch kurz, auf das Schloss von Lunéville ein, der angestammten Residenz der Herzöge von Lothringen (s. zu anderen Reiseberichten der Zeit über Lothringen Garms 2009). Neumann fällt an der Schlossanlage als erstes die Position des eigenwilligen offenen Vestibüls auf, das mit seinen drei gleich großen Bogenöffnungen und vier frei davorgestellten kolossalen Vollsäulen wie ein Triumphbogen gestaltet ist und zwischen Ehrenhof und Garten vermittelt. Das Motiv der drei gleichhohen Bögen könnte einen gewissen Einfluss auf die Planungen der Eingangsfront der Würzburger Residenz gehabt haben.
Neumann nutzt die Netzwerke der Schönborns, um sich bei Kardinal von Rohan (Armand-Gaston-Maximilien de Rohan-Soubise) einzuführen, der ihm wiederum den Zugang zum Ersten Architekten des Königs, Robert de Cotte, verschafft (Brief aus Paris vom 15. Februar 1723).
Anschaulich schildert Neumann seinem Herren die neueste Mode der französischen Innenausstattung: Bevorzugt würden weiße Holzvertäfelungen mit Goldhöhungen für die Rahmenleisten und Ziermotive, darunter vor allem Treillagen (von ihm als „mosaique“ bezeichnet); des Weiteren seien die „Cheminées à la royale“ mit großen Spiegeln über der Feuerstelle en vogue, wie überhaupt gerne überall Spiegel angebracht würden. Neumann betont, er bemühe sich alles zu zeichnen, was nicht als Stich zu erhalten sei (Brief aus Paris vom 1. März 1723).
Mit diplomatischem Geschick lässt der junge Architekt in seinen Briefen an seinen Herrn Johann Philipp Franz von Schönborn einfließen, dass er sich bei den Unterredungen mit Robert de Cotte dessen Anregungen nicht versperrt habe; zugleich stellt er aber auch deutlich heraus, welche (für ihn untragbaren) Eingriffe diese Änderungsvorschläge bedeuten würden (Brief aus Paris vom 8. März 1723).
Angewiesen, eine oder mehrere Kutschen für seinen Herren anzukaufen, fertigt Neumann drei reich kommentierte Zeichnungen zu solchen Fahrzeugen und ihrem Zubehör an (Briefe aus Paris vom 15. und 17. Februar 1723). Vor allem die dritte Zeichnung, die dem Brief vom 17. Februar beigefügt ist, ist kaum bekannt. Aufschluss über das, was Neumann vorrangig aus Paris mitbringt, gibt auch eine Einkaufsliste, die er seinem Brief aus Paris vom 29. März beifügt.
Bibliografie
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Hegener 2016: Nicole Hegener, Tiepolo architetto e Neumann pittore: il „problema“ dell’illuminazione dello scalone della Residenz di Würzburg, in: Ricche minere 3, 2016, H. 5, S. 57-73.
Hirsch 1912: Fritz Hirsch, Das sogenannte Skizzenbuch Balthasar Neumanns. Ein Beitrag zur Charakteristik des Meisters und zur Philosophie der Baukunst, Heidelberg: Winter, 1912 (= Zeitschrift für Geschichte der Architektur, Beiheft 8).
Hotz 1981: Joachim Hotz, Das „Skizzenbuch Balthasar Neumanns“ (Universitätsbibliothek Würzburg, Delin, III). Studien zur Arbeitsweise des Würzburger Meisters und zur Dekorationskunst im 18. Jahrhundert, 2 Bde., Wiesbaden: Reichert, 1981.
Hubala/Mayer/Mülbe 1984: Erich Hubala u. Otto Mayer, Die Residenz zu Würzburg, Aufnahmen v. Wolf-Christian von der Mülbe, Würzburg: Arena, 1984.
Hubala 1984: Erich Hubala, Genie, Kollektiv und Meisterschaft — zur Autorenfrage der Würzburger Residenzarchitektur, in: Martin Gosebruch zu Ehren. Festschrift anlässlich seines 65. Geburtstages am 20. Juni 1984, München: Hirmer, 1984, S. 157-170.
Hubala 1989: Erich Hubala, Die Grafen von Schönborn als Bauherren, in: Die Grafen von Schönborn: Kirchenfürsten, Sammler, Mäzene, hg. v. Gerhard Bott, Ausstellungskatalog, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 1989, Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum, 1989, S. 24-52.
Karlsen 2016: Anja Karlsen, Das mitteleuropäische Treppenhaus des 17. und 18. Jahrhunderts als Schaubühne repräsentativer Inszenierung: Architektur, künstlerische Ausstattung und Rezeption, Petersberg: Michael Imhof Verlag, 2016.
Keller 1895: Philipp Joseph Keller, Balthasar Neumann: eine Studie zur Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts, München, Univ. Diss., 1895.
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Klemm 1996: David Klemm, Das Bildnis Balthasar Neumanns aus dem Jahre 1727, in: Festschrift für Fritz Jacobs zum 60. Geburtstag, hg. v. Olaf Klodt u. Karen Michels, Münster: Lit 1996, S. 99-117.
Korth 1987: Thomas Korth, Der Raum der Schönbornkapelle am Würzburger Dom, in: Balthasar Neumann 1687-1753. Kunstgeschichtliche Beiträge zum Jubiläumsjahr 1987, hg. v. Thomas Korth u. Joachim Poeschke, München: Hirmer, 1987, S. 53-78.
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Krause 2009: Katharina Krause, Résidences épiscopales. Les voyages de Balthasar Neumann en France et de Germain Boffrand en Franconie, in: Art de cour. Le mécénat princier au siècle des Lumières, hg. v. Christian Taillard, Rennes: Presses Univ. de Rennes, 2009, S. 189-204.
Kremeier 2015: Jarl Kremeier, Bathasar Neumann (1687-1753) und seine Bibliothek: Einblicke in einen barocken Bücher- und Grafikschatz, in: Bücherwelten — Raumwelten. Zirkulation von Wissen und Macht im Zeitalter des Barock, hg. v. Elisabeth Tiller, Köln: Böhlau, 2015, S. 187-218.
Kummer 1987: Stefan Kummer, Balthasar Neumann und die frühe Planungsphase der Würzburger Residenz, in: Balthasar Neumann 1687-1753. Kunstgeschichtliche Beiträge zum Jubiläumsjahr 1987, hg. v. Thomas Korth u. Joachim Poeschke, München: Hirmer, 1987, S. 79-91.
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Kummer 2009: Stefan Kummer, Balthasar Neumann als Fürstlicher Baumeister, in: Frankenland 61, 2009, S. 379-390.
Kummer 2013: Stefan Kummer, Der Baumeister der Fürstbischöfe: Balthasar Neumann (1687-1753) in Würzburg, in: Kulturstadt Würzburg. Kunst, Literatur und Wissenschaft von der Schönbornzeit bis zur Reichsgründung, 2 Bde., Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013 (= Würzburger Ringvorlesungen), Bd. II, S. 19-56.
Lohmeyer 1911: Die Briefe Balthasar Neumanns von seiner Pariser Studienreise 1723, hg. v. Karl Lohmeyer, Düsseldorf: Schwann, 1911.
Lohmeyer 1921: Die Briefe Balthasar Neumanns an Friedrich Karl von Schönborn, Fürstbischof von Würzburg und Bamberg, und Dokumente aus den ersten Baujahren der Würzburger Residenz, hg. v. Karl Lohmeyer, Saarbrücken u. a.: Hofer, 1921 (= Das rheinisch-fränkische Barock, Bd. 1).
Lüsebrink 2016: Hans-Jürgen Lüsebrink, Faszinationsfigur Valentin Jamerey-Duval (1695-1775) — zum Verhältnis von plebejischer Lebenserfahrung, transkultureller Migration und autobiographischem Schreiben im Aufklärungszeitalter, in: Literatur leben, Festschrift für Ottmar Ette, hg. v. Albrecht Buschmann, Julian Drews, Tobias Kraft, Anne Kraume, Markus Messling u. Gesine Müller, Frankfurt a. M.: Vervuert-Iberoamericana, 2016, S. 183-189.
Mader 1915: Stadt Würzburg, hg. v. Felix Mader, München: Verlag der Vereinigten Kunstanstalten, 1915 (= Die Kunstdenkmale des Königreiches Bayern vom elften bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, 3. Abteilung: Unterfranken, Bd. 12).
Nemeitz 1718: [Joachim Christoph Nemeitz], Séjour de Paris, oder getreue Anleitung, welchergestalt Reisende von Condition sich zu verhalten haben, wenn sie ihre Zeit und Geld nützlich und wohl zu Paris anwenden wollen: nebst einer zulänglichen Nachricht von dem königlichen Hoff, Parlament, Universität, Academien, Bibliothequen, Gelehrten, Künstlern, etc., Entworffen von Timentes, Frankfurt a. M.: Förster, 1718; weitere Aufl. 1722, 1725 u. 1750.
Nemeitz 1727: [Joachim Christoph Nemeitz], Séjour de Paris c’est à dire, instructions fidèles, pour Voiageurs de Condition, Comment ils se doivent conduire, s’ils veulent faire un bon usage de leur tems & argent, durant leur Séjour à Paris. Comme aussi une Description suffisante de la Cour de France, du Parlement, de l’Université, des Academies, & Bibliothéques; avec une Liste des plus celébres Savans, Artisans, & autes choses remarquables, Qu’on trouve dans cette grande & fameuse ville. Par le Sr J. C. Nemeitz, conseiller de S. A. S. Monsgr le Prince de Waldeck, 2 Bde., Leiden: J. Van Abcoude, 1727.
Reinhardt 2019: Volker Reinhardt, Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens, München: C. H. Beck, 2019.
Reuther 1973: Hans Reuther, Die künstlerischen Einwirkungen von Johann Lucas von Hildebrandt auf die Architektur Balthasar Neumanns, in: Architectura 3, 1973, S. 58-86.
Rizzi 1976: Wilhelm Georg Rizzi, Die Kuppelkirchenbauten Johann Lucas von Hildebrandts (Abbildung 53-78), in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 29, 1976, S. 121-156.
Schütz 1986: Bernhard Schütz, Balthasar Neumann, Freiburg i. Br.: Herder, 1986.
Sedlmaier/Pfister 1923: Richard Sedlmaier u. Rudolf Pfister, Die fürstbischöfliche Residenz zu Würzburg, München: Georg Müller, 1923.
Satzinger 1992: Georg Satzinger, Balthasar Neumanns Kuppelentwürfe für die Abteikirche Münsterschwarzach — Zugleich ein Beitrag zum Thema `Neumann und die Tradition´, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 55, 1992, S. 413-445.
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Satzinger 2016b: Georg Satzinger, Balthasar Neumann und seine Wohnhäuser in Würzburg, in: In situ 8, 2016, H. 2, S. 205-222.
Stephan 2002: Peter Stephan, „Im Glanz der Majestät des Reiches“. Tiepolo und die Würzburger Residenz. Die Reichsidee der Schönborn und die politische Ikonologie des Barock, 2 Bde., Weißenhorn: Konrad, 2002.
Störkel 1997: Arno Störkel, Der Mann mit dem Pferd und Neumann auf dem Kanonenrohr: eine Studie zur Identifikation zweier Personen in Tiepolos Würzburger Treppenhaus, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 49, 1997, S. 141-156.
Süßmann 2007a: Johannes Süßmann, Vergemeinschaftung durch Bauen. Würzburgs Aufbruch unter den Fürstbischöfen aus dem Hause Schönborn, Berlin: Duncker & Humblot, 2007 (= Historische Forschungen, Bd. 86).
Süßmann 2007b: Johannes Süßmann, Balthasar Neumann als fürstbischöflicher Baukommissar, in: Die Kunst der Mächtigen und die Macht der Kunst. Untersuchungen zu Mäzenatentum und Kulturpatronage, hg. v. Ulrich Oevermann, Johannes Süßmann u. Christine Tauber, Berlin: Akademie Verlag, 2007 (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 20), S. 223-240.
Tronquart 1991: Martin Tronquart, Les châteaux de Lunéville (Meurthe-et-Moselle), Inventaire général des monuments et des richesses artistiques de la France (Région de Lorraine), Metz: Ed. Serpenoise, 1991.
Ulbert 2004: Jörg Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Zur Reichsperzeption französischer Diplomaten während der Regentschaft Philipps von Orléans (1715-1723), Berlin: Duncker & Humblot 2004 (= Historische Forschungen, Bd. 79).
Wackernagel 1982: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, begonnen von Otto Schmitt, hg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, Redaktion Karl-August Wirth, Bd. VIII, München: C. H. Beck 1982, S. 348-421, s. v. „Festwagen“ (Rudolf H. Wackernagel). https://www.rdklabor.de/wiki/Festwagen.
Wackernagel 2002: Rudolf H. Wackernagel, Balthasar Neumanns Wagenbeschaffung in Paris (1723) und der Bamberger „englische Reisewagen“ von 1783, in: Staats- und Galawagen der Wittelsbacher: Kutschen, Schlitten und Sänften aus dem Marstallmuseum Schloß Nymphenburg, hg. u. bearb. v. Rudolf H. Wackernagel, 2 Bde., Stuttgart: Arnold, 2002, Bd. II, S. 280-290.
Bearbeiter*innen
Einleitungstext: Hendrik Ziegler, kontrolliert v. Marion Müller u. Florian Dölle; Übersetzung ins Französische: Jean-Léon Muller.
Transkription der Edition (Neumann): Florian Dölle, auf der Grundlage einer ersten Transkription von Martin Pozsgai, die auf der gedruckten Edition von Max H. von Freeden (1955) beruhte; kontrolliert v. Stefanie Funck.
Annotation der Edition (Neumann): Hendrik Ziegler.
Registererstellung in DeutscDans les dix-neuf h und Französisch: Bastien Coulon, Florian Dölle, Angela Göbel, Anna Hartmann, Marion Müller, Alexandra Pioch u. Hendrik Ziegler; kontrolliert u. ergänzt durch Jean-Léon Muller u. Marie-Paule Rochelois.
Übersetzung der annotierten Transkription ins Französische: Florence de Peyronnet-Dryden, kontrolliert v. Alexandra Pioch, Hendrik Ziegler u. Jean-Léon Muller.
Kodierung der deutschen und französischen Edition (Neumann): Florian Dölle, kontrolliert v. Axelle Janiak u. Mathieu Duboc.